Victor ritzte mit seinem Brieföffner Kerben in die Schreibtischplatte. »Wie lange irrt der Junge schon allein da draußen herum?«, fragte er. »Wann ist er weggelaufen?«
»Vor einigen Stunden. Wir mussten ja erst einmal den Schaden mit dem Restaurant regeln. Und dann ein neues Hotel finden. Mit all unserem Gepäck. Alle anständigen Unterkünfte sind ausgebucht. Und wir sind in einem furchtbar primitiven Hotel an der Rialto- Brücke untergekommen.«
Einige Stunden. Victor fuhr sich mit der Hand durch das müde Gesicht und blickte nach draußen. Schwarz und kalt hockte die Nacht zwischen den Häusern. Wie ein Tier, das kleine Jungen verschlang.
»Haben Sie die Polizei benachrichtigt?«, fragte Victor. »Sucht schon jemand nach Bo, Ihr Mann zum Beispiel?«
»Wie meinen Sie das?« Esthers Stimme wurde schrill. »Glauben Sie, einer von uns irrt in diesen finsteren Gassen herum? Nach dem, was sich der Junge an diesem Abend geleistet hat? Nein. Unsere Geduld ist am Ende, ich will nicht einmal mehr seinen Namen hören. Ich.«
Victor legte den Hörer auf. Er legte einfach auf. Vor einigen Stunden! Schlaftrunken zog er sich an.
Als er aus der Haustür trat, empfing ihn eine so klirrende Kälte, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Na, immer noch besser als kübelweise Regen, dachte Victor, zog sich den Hut tief in die Stirn und stapfte los. Im letzten Winter hatte die Stadt etliche Male unter Wasser gestanden, so hoch, dass ein kleiner Junge wie Bo wahrscheinlich davongespült worden wäre. Die Lagune überschwemmte Venedig immer öfter, früher war das höchstens alle fünf Jahre passiert. Aber darüber wollte Victor jetzt nicht nachdenken. Seine Stimmung war schon düster genug. Seine Füße waren bleischwer vor Müdigkeit, als er die spärlich beleuchteten Gassen entlangstolperte, über Steine, die silbrig waren vom Frost. Es konnte nur einen Ort geben, an dem Bo sich verkrochen hatte. Er wusste schließlich nicht, dass Prosper und seine Freunde bei Ida Spavento untergekommen waren. Victor schniefte und fuhr sich mit dem Ärmel über die eiskalte Nasenspitze. Gar nichts wusste er, der arme kleine Kerl.
Es war ein langer Weg von Victors Wohnung zum Versteck der Kinder. Als er endlich vor dem alten Kino stand, war er durchgefroren bis auf die Knochen. Ich muss mir einen wärmeren Mantel kaufen, dachte er, während er nach dem passenden Dietrich suchte. Zum Glück hatte Dottor Massimo das Schloss noch nicht auswechseln lassen. Auch der Vorraum lag immer noch voll Gerümpel, als wäre nichts geschehen seit der Nacht, in der die Kinder Victor gefangen hatten. Aber als er in den dunklen Kinosaal trat, hörte er ein leises Weinen.
»Bo?«, rief er. »Bo, ich bin es, Victor. Komm raus. Oder wollen wir wieder Verstecken spielen?«
»Ich geh nicht zu ihr zurück!«, kam eine verweinte Stimme aus der Dunkelheit. »Glaub das bloß nicht. Ich will nur zu Prosper.«
»Du brauchst auch nicht zurück.« Victor leuchtete mit der Taschenlampe die Sitze entlang, bis das Licht auf blonde Haare fiel. Bo kroch zwischen den Sitzen herum, als suche er nach etwas. »Sie sind weg, Victor!«, schluchzte er. »Sie sind weg.«
»Wer?« Victor beugte sich zu ihm hinunter, und Bo wandte ihm das verweinte Gesicht zu. »Meine Katzen«, schniefte er. »Und Wespe.«
»Niemand ist weg«, brummte Victor, zog Bo hoch und wischte ihm die Tränen von den Backen. »Sie sind alle bei Ida Spavento, Wespe, Prosper, Riccio, Mosca und deine Katzen.« Er hockte sich auf einen Klappsessel und zog Bo auf seinen Schoß. »Man hört ja Sachen von dir, mein Lieber«, sagte er. »Tischdecken runterreißen, schreien, weglaufen. Weißt du, dass deine Tante und dein Onkel wegen dir aus ihrem feinen Hotel geworfen worden sind?«
»Wirklich?« Bo zog die Nase hoch und presste sein Gesicht in Victors Mantel. »Ich war so wütend«, murmelte er. »Esther wollte nicht sagen, wo Prosper ist.«
»So, so.« Victor drückte Bo ein Taschentuch in die schmutzigen Finger. »Da. Putz dir die Nase. Prosper geht es gut. Er liegt in einem weichen Bett und träumt von seinem kleinen Bruder.«
»Sie wollte mir einen Scheitel ziehen«, murmelte Bo und strich über sein zerzaustes Haar, als müsse er sich versichern, dass Esthers Bemühungen umsonst gewesen waren. »Und ich durfte nicht auf dem Bett hüpfen. Und den Pullover, den Wespe mir geschenkt hat, wollte sie wegwerfen. Sie schimpft schon wegen sooo einem kleinen Kleckerfleck.«, Bo zeigte den Umfang mit seinen Fingern, »... und dauernd wischt sie in meinem Gesicht herum. Und sagt gemeine Sachen über Prosper.«
»Na, so was!« Victor schüttelte mitfühlend den Kopf. Bo rieb sich die Augen und gähnte. »Mir ist kalt«, murmelte er. »Bringst du mich zu Prosper, Victor?«
Victor nickte. »Ja, das mach ich«, sagte er. Aber als er Bo hochheben wollte, duckte der sich zwischen die Sitze. »Da ist einer!«, flüsterte er. Victor drehte sich um.
In der Tür zum Vorraum stand ein Mann und leuchtete mit einer großen Taschenlampe in den Vorführraum. »Was machen Sie denn da?«, rief er mit barscher Stimme, als das Licht auf Victor fiel.
Victor richtete sich auf und legte Bo den Arm um die Schulter. »Ach, dem Kleinen hier ist nur sein Kätzchen weggelaufen«, sagte er so gleichmütig, als wäre nichts Besonderes dabei, mitten in der Nacht in einem geschlossenen Kino zu stehen. »Er dachte, es wäre hier reingelaufen, durch den Notausgang. Das Kino steht doch leer, oder?«
»Ja, aber Dottor Massimo, der Besitzer, hat mich beauftragt, ein Auge darauf zu haben, seit hier zwei elternlose Kinder aufgegriffen worden sind. Das da hinter Ihnen.«, der Mann wedelte mit seiner Taschenlampe, ». das ist auch ein Kind.«
»Scharf beobachtet!« Victor strich Bo durch das feuchte Haar. »Aber er ist nicht elternlos. Das ist mein Sohn. Wie schon gesagt, er hat nur sein Kätzchen gesucht.« Victor blickte sich um. »Das ist ein schönes Kino. Wieso steht es leer?«
Der Mann zuckte die Achseln. »Dottor Massimo will nach all dem Ärger einen Supermarkt daraus machen. Und jetzt gehen Sie. Hier sind keine Katzen, und wenn, dann wären sie längst tot. Ich habe nämlich Rattengift gestreut.«
»Wir sind schon weg!« Victor schob Bo vor sich her zum Notausgang, aber Bo blieb immer wieder stehen. Schließlich hatte er auch gehört, was der Mann gesagt hatte: Ein Supermarkt sollte aus dem Sternenversteck werden.
»Der Vorhang«, sagte er plötzlich. »Sieh doch, Victor, sie haben ihn einfach runtergerissen.«
Schmutzig und zerdrückt lag der schwere Stoff auf dem Boden. »Was haben Sie mit dem Vorhang vor?«, rief Victor dem Wächter zu, der gerade wieder durch die Tür zum Vorraum verschwand.
Unwillig drehte der sich um. »Hören Sie mal, es ist spät!«, rief er. »Verschwinden Sie jetzt mit Ihrem Kleinen. Und wenn Sie der Vorhang interessiert, dann nehmen Sie ihn doch mit.«
»Ach ja? Wie sollen wir das denn machen?«, murmelte Victor. »So ein Idiot.«
Dann zog er sein Taschenmesser aus der Manteltasche und trennte ein großes Stück von dem bestickten Stoff ab. »Hier«, sagte er und drückte es Bo in die Hand. »Als kleines Andenken.«
»Ist Scipio auch bei Ida?«, fragte Bo, als sie aus dem Notausgang traten.
»Nein«, antwortete Victor, wickelte ihn in die warme Decke, die er vorsorglich mitgebracht hatte, und nahm ihn auf den Arm. »Der ist wohl wieder zu Hause. Ich glaube, deine Freunde sind nicht mehr allzu gut auf ihn zu sprechen.«
»Aber sein Vater ist ekelig«, murmelte Bo, obwohl er kaum noch die Augen aufhalten konnte. »Du bist viel netter.« Er schlang seine Arme um Victors Nacken und presste gähnend das Gesicht gegen seine Schulter. Schon auf der Accademia-Brücke schlief er tief und fest. Und Victor trug ihn weiter durch die stillen, menschenleeren Gassen bis zu Ida Spaventos Haus.
In Sicherheit