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Ida selbst öffnete Victor die Tür, im knallroten Morgenmantel, die Augen dunkel vor Müdigkeit. Hinter ihr, mit erschrockenen Gesichtern, standen Wespe, Mosca und Riccio und starrten Victor an, als hätten sie jemand anderes erwartet.

»Was ist denn hier los?«, raunte er, als er sich mit dem schlafenden Bo an ihnen vorbeidrängte.

»Das ist ja Bo!«, rief Wespe so laut, dass Victor besorgt in Bos schlafendes Gesicht schaute, aber Bo murmelte nur irgendetwas Unverständliches im Schlaf und kroch noch tiefer in die wärmende Decke.

»Ja, das ist Bo«; knurrte Victor, »und er ist ziemlich schwer, also könntet ihr mir alle mal netterweise aus dem Weg gehen, damit ich ihn irgendwo ablegen kann?«

Hastig wichen sie alle zur Seite und Ida ging Victor voran, die steilen Treppen hinauf, bis zu dem Zimmer, in dem sie die Kinder untergebracht hatte. Mit einem Seufzer legte Victor Bo samt der Decke in eins der Betten, zog ihm noch eine Bettdecke bis ans Kinn und schlich dann mit Ida wieder aus dem Zimmer. Vor der Tür warteten mit großen Augen Mosca, Riccio und Wespe. Erst da merkte Victor, dass jemand fehlte. »Wo ist Prosper?«, fragte er.

»Deshalb sind wir alle auf um diese Zeit«, antwortete Ida mit leiser Stimme. »Vor einer Stunde hat Caterina mich geweckt, weil er nicht in seinem Bett war.«

Wespe nickte. Ihr Gesicht war noch blasser als sonst. »Wir haben alles nach ihm abgesucht«, flüsterte sie. »Das Haus, den Hof, sogar auf dem Campo haben wir nach ihm gesucht. Er ist nicht da.«

Hoffnungsvoll guckte sie Victor an, als könne er Prosper herbeizaubern, so wie er es offenbar mit Bo geschafft hatte. »Kommt mit, wir sollten nicht länger hier vor der Tür herumflüstern«, sagte Ida leise. »Der Kleine muss ja nicht unbedingt gleich erfahren, dass sein Bruder verschwunden ist. Und Victor hat bestimmt einiges zu erzählen.«

Im salotto war es kalt. Ida heizte nachts nur die Schlafzimmer ein wenig, aber Victor zündete den Kamin an, und als sie sich alle dicht aneinander gedrängt vor das Feuer hockten, wurde ihnen schnell warm. Bos Kätzchen kletterten vom Schrank herunter und schnurrten ihnen um die Beine, als sie die Wärme spürten. Und Victor erzählte, wie Esther ihn aus dem Schlaf geholt und wo er Bo gefunden hatte. Es fiel ihm schwer, sich auf seine Geschichte zu konzentrieren, denn immer wieder kam ihm der Gedanke an Prosper in die Quere. Wo konnte der Junge nur stecken? »Was heißt das: Sie will ihn nicht zurückhaben?« Idas Stimme schreckte ihn aus seinen Gedanken. »Ja, was denkt diese Esther denn? Ist der Junge ein Schuh, den sie anprobiert und wegwirft, weil er ihr nicht passt?« Mit ärgerlicher Miene suchte sie in ihrem Morgenmantel nach Zigaretten.

»Hier, Ida«, sagte Riccio und hielt ihr verlegen eine zerdrückte Packung hin. »Ich hab bloß eine genommen, ehrlich.« Mit einem Seufzer nahm Ida ihm die Schachtel aus der Hand. »Ich weiß nicht, was diese Esther

Hartlieb denkt!«, knurrte Victor und rieb sich die müden Augen. »Ich weiß nur, dass ich mich schon auf das Gesicht gefreut habe, das Prosper macht, wenn ich ihm seinen kleinen Bruder zurückbringe. Aber stattdessen komm ich her, und Prosper ist weg! Verdammt noch mal!« Ärgerlich sah er die drei Kinder an. »Hättet ihr nicht etwas auf ihn aufpassen können? Ihr habt doch alle gemerkt, wie durcheinander er war.«

»Was soll das denn heißen?«, rief Mosca empört. »Sollten wir Prosper vielleicht an seinem Bett festbinden?« Wespe fing an zu schluchzen. Ihre Tränen tropften auf das viel zu große Nachthemd, das Ida ihr geschenkt hatte. »Schluss jetzt«, sagte Ida und nahm sie in den Arm. »Was tun wir? Wo suchen wir Prosper? Hat irgendwer eine Idee?«

»Wahrscheinlich steht er wieder vorm Sandwirth!«, sagte Mosca. »Ja, ohne zu ahnen, dass seine Tante dort gar nicht mehr wohnt«, brummte Victor. »Ich werde mal anrufen und den Nachtportier fragen, ob ein Junge draußen vor dem Hotel herumlungert.« Mit einem Seufzer zog er sein Telefon aus der Manteltasche und wählte die Nummer des Gabrielli Sandwirth. Der Nachtportier war kurz vor der Ablösung, aber er tat Victor trotzdem den Gefallen und sah aus dem Fenster. Auf der menschenleeren Promenade der Riva degli Schiavoni stand kein Junge. Mit ratlosem Gesicht steckte Victor das Telefon wieder weg.

»Ich brauch jetzt eine Mütze Schlaf«, sagte er und richtete sich auf. »Nur ein, zwei Stunden, damit ich wieder denken kann. Der eine Bruder wieder da, der andere fort«, stöhnend strich er sich über die Stirn, »was für eine Nacht. Ich habe das Gefühl, dass ich nur noch solche Nächte habe. Ist hier im Haus irgendwo ein leeres Bett zu finden?«

»Ich könnte dir Prospers Luftmatratze anbieten«, antwortete Ida.

Victor nahm das Angebot an.

Sie waren alle todmüde, aber keiner von ihnen schlief schnell ein, und die bösen Träume warteten schon unter den Kissen. Nur Bo schlief friedlich wie ein Engel, als hätten all seine Sorgen in dieser Nacht ein Ende gefunden.

Der Conte

Prosper und Scipio wurden davon wach, dass jemand die Stalltür öffnete. Tageslicht fiel auf ihre Gesichter. Im ersten Moment wussten sie nicht, wo sie waren, aber das Mädchen, das in der offenen Tür lehnte, brachte die Erinnerung schnell zurück. »Buon giorno, meine Herren«, sagte sie und zerrte die Doggen zurück, als sie in den Stall laufen wollten. »Ich hätte euch noch eine Weile hier im Stall gelassen, aber mein Bruder besteht darauf, euch zu sehen.«

»Bruder?«, flüsterte Scipio Prosper zu, als sie aus dem Stall ins Freie traten. Das große Haus sah im Morgenlicht noch verfallener aus als bei Nacht. Ungeduldig winkte das Mädchen sie die Treppe hinauf, vorbei an den Engeln mit den verlorenen Gesichtern, bis sie zwischen den Säulen vor der Eingangstür standen. Muffig kalte Luft schlug ihnen entgegen, als das Mädchen sie öffnete. Die Doggen drängten sich an ihr vorbei und verschwanden schwanzwedelnd im Inneren des Hauses.

Die Eingangshalle war so hoch, dass Prosper schwindelig wurde. Er legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf zur Decke. Sie war bedeckt mit Bildern. Sie waren rußverschmutzt, ihre Farben verblasst, aber man sah trotzdem, wie schön sie einmal gewesen waren. Pferde bäumten sich dort oben auf, Engel spreizten die Flügel und flogen hinauf in einen sommerblauen Himmel. »Nun geht schon!«, sagte das Mädchen. »Gestern hattet ihr es doch noch so eilig. Dort hinein!«

Sie wies auf eine offene Tür am anderen Ende der Halle. Die Doggen stürmten voraus, so ungestüm, dass ihre Pfoten auf dem glatten Steinboden wegrutschten. Zögernd gingen Scipio und Prosper ihnen nach, schritten über Einhörner und Seejungfrauen, Bilder aus winzigen, farbigen Steinchen, die bedeckt waren mit Schmutz. Ihre Schritte hallten so laut, dass es Prosper schien, als flatterten die Engel an der Decke verärgert davon.

Der Raum, in dem die Hunde verschwanden, war dunkel, trotz des Tageslichts, das durch schmale Fenster hereinfiel. In einem Kamin, geformt wie das aufgesperrte Maul eines Löwen, brannte ein Feuer. Davor hatten die Doggen sich niedergelassen, Spielzeug lag zwischen ihren großen Pfoten. Im ganzen Raum lag und stand es herum: Kegel, Bälle, Schwerter, Schaukelpferde, eine ganze Herde davon, Puppen in jeder Form und Größe, achtlos hingeworfen, die Arme und Beine verdreht, dazwischen Armeen von Zinnsoldaten, Dampfmaschinen, Segelschiffe mit geschnitzten Matrosen an der Reling - und mitten in all dem Durcheinander hockte ein Junge. Mit gelangweiltem Gesicht setzte er einen Soldaten auf ein winziges Pferd.

»Da sind sie, Renzo«, sagte das Mädchen und schob Prosper und Scipio durch die offene Tür. »Sie riechen etwas nach Taubendreck, aber du siehst, die Ratten haben sie nicht angefressen.« Der Junge hob den Kopf. Sein schwarzes Haar war kurz geschoren und seine Kleider sahen noch altmodischer aus als Scipios Jacke. »Der Herr der Diebe!«, stellte er fest. »Tatsächlich. Du hattest Recht, Schwesterchen.« Er warf den Soldaten, den er immer noch in der Hand hielt, achtlos auf den Boden, stand auf und trat auf Scipio und Prosper zu.