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Prosper und Scipio sahen sich an. Das konnten sie sich vorstellen. »Ich mache seit langem Geschäfte mit dem Rotbart«, erzählte Renzo, während er sich weiter durch die verwilderten Hecken kämpfte. »Er ist der einzige Antiquitätenhändler, der nicht zu viele Fragen stellt. Und er ist der Einzige, den Morosina und ich je auf die Insel gelassen haben. Er glaubt natürlich, dass er es mit dem Conte Vallaresso zu tun hat, der so verarmt ist, dass er ihm ab und zu etwas von seinen Familienschätzen verkauft. Morosina und ich leben schon lange von dem, was die Vallaresso zurückgelassen haben. Aber wenn er morgen vor dem Tor steht, um das Spielzeug abzuholen, wird ihm niemand öffnen. Der Conte ist für alle Zeiten verschwunden.«

»Barbarossa hat immer so getan, als wüsste er nicht, was wir für den Conte stehlen sollen«, sagte Prosper.

»Das habe ich ihm auch nicht erzählt«, antwortete Renzo. »Weiß er von dem Karussell?«, fragte Scipio. Renzo lachte. »Nein, Gott bewahre, der Rotbart wäre der Letzte, dem ich es zeigen würde. Er würde auf der Stelle Eintrittskarten dafür verkaufen, für eine Million Lire das Stück. Nein, er hat es nie gesehen. Denn zum Glück«, Renzo schob ein paar dornige Zweige auseinander, »ist es sehr, sehr gut versteckt.« Er zwängte sich zwischen zwei Büsche - und war verschwunden. Die Dornen zerkratzten Prosper und Scipio das Gesicht, als sie ihm folgten. Doch dann standen sie plötzlich auf einer Lichtung, umgeben von Büschen und Bäumen, die die Zweige ineinander schlangen, als wollten sie verbergen, was auf verschneitem Moos zwischen ihnen stand.

Das Karussell sah genau so aus, wie Ida Spavento es beschrieben hatte. Vielleicht hatte Prosper es sich etwas prächtiger und bunter vorgestellt. Die Farben auf dem Holz waren verblasst, abgetragen von Wind, Regen und Salzluft, doch der Anmut der Figuren hatte die Zeit nichts anhaben können.

Alle fünf waren da: das Einhorn, die Meerjungfrau, der Wassermann, das Seepferd und der Löwe, der beide Flügel spreizte, als hätte ihm nie einer gefehlt. Sie hingen an Stangen unter einem hölzernen Baldachin, sodass es schien, als schwebten sie. Der Wassermann hielt einen Dreizack in der hölzernen Faust, die Meerjungfrau blickte mit blassgrünen Augen in die Ferne, als träumte sie von Wasser und vom weiten Meer. Und das Seepferd mit seinem Fischschwanz war so schön, dass man bei seinem Anblick fast vergaß, dass es auch Pferde mit vier Beinen gab. »War es immer hier?«, fragte Scipio. Fast andächtig ging er auf das Karussell zu und streichelte dem Löwen die geschnitzte Mähne.

»Seit ich mich erinnern kann«, antwortete Renzo.

»Morosina und ich waren noch sehr klein, als unsere Mutter mit uns auf die Insel kam, weil die Vallaresso eine Küchenmagd suchten. Niemand erzählte uns von dem Karussell, es wurde ein großes Geheimnis darum gemacht, aber wir erfuhren trotzdem davon. Es stand schon damals hier hinter dem Labyrinth, und manchmal schlich ich her, um zuzusehen, wie die reichen Kinder darauf fuhren. Zusammen mit Morosina lag ich im Gebüsch, und wir träumten davon, nur ein einziges Mal auch darauf zu fahren. Bis man uns erwischte und zurück an die Arbeit scheuchte. Die Jahre vergingen, unsere Kindheit verging, unsere Mutter starb, wir wurden älter und älter, die Vallaresso verloren ihr Vermögen und verließen die Insel, und Morosina und ich suchten uns Arbeit in der Stadt. Da hörte ich eines Tages in einer Bar die Geschichte von dem Karussell der Barmherzigen Schwestern. Ich wusste sofort, dass es das Karussell auf der Insel sein musste. Plötzlich verstand ich, warum die Vallaresso so ein Geheimnis daraus gemacht hatten. Die Geschichte ging mir nicht mehr aus dem Sinn, ich träumte davon, den echten Flügel des Löwen zu finden, den Zauber des Karussells wieder zu erwecken und mit meiner Schwester darauf zu reiten. Morosina hat mich ausgelacht, doch sie kam mit, als ich beschloss, auf die Insel zurückzukehren. Das Karussell stand noch da und ich beschloss, mich auf die Suche nach dem Flügel zu machen. Fragt mich nicht, wie viele Jahre es gedauert hat, bis ich herausfand, wo er war.« Renzo kletterte auf das Karussell und lehnte sich gegen das Einhorn. »Es hat sich gelohnt«, sagte er und strich ihm über den Rücken. »Ihr habt mir den Flügel gebracht, und Morosina und ich sind mit dem Karussell gefahren.«

»Ist es egal, auf welche Figur man steigt?« Scipio sprang auf das Podest und schwang sich auf den Rücken des Löwen. »Nein.« Für einen Moment stand

Renzo so gebeugt da wie der alte Mann, der er einmal gewesen war. »Für mich war der Löwe das richtige Reittier. Du und dein Freund, ihr müsst auf eins der Wasserwesen steigen.«

»Komm, Prop!'«, rief Scipio und winkte Prosper zu sich herauf. »Such dir eine Figur aus. Welche willst du, das Seepferd, den Wassermann?« Prosper trat zögernd auf das Karussell zu. Er hörte in der Ferne die Hunde jaulen.

Auch Renzo hatte es offenbar gehört. Mit gerunzelter Stirn trat er an den Rand des Podests. »Steigt auf«, sagte er zu Scipio. »Ich glaube, ich muss zurück zum Haus, nach Morosina sehen.« Scipio war schon vom Rücken des Löwen gerutscht und hangelte sich auf das Seepferd. »Prosper, worauf wartest du noch?«, rief er ungeduldig, als er sah, dass Prosper immer noch unten vor dem Podest stand.

Aber Prosper rührte sich nicht. Er konnte nicht. Er konnte einfach nicht. Er stellte sich vor, wie er groß und erwachsen ins Gabrielli Sandwirth trat, Esther und seinen Onkel einfach zur Seite schob und mit Bo an der Hand davonging. Aber trotzdem konnte er nicht auf das Karussell steigen.

»Hast du es dir anders überlegt?«, fragte Renzo und schaute ihn neugierig an.

Prosper antwortete nicht. Er sah zu dem Einhorn hoch, zum Wassermann mit seinem blassgrünen Gesicht und zum Löwen, dem geflügelten Löwen. »Fahr du zuerst, Scip«, sagte er. Die Enttäuschung fiel wie ein Schatten auf Scipios Gesicht. »Wie du willst«, sagte er und drehte sich zu Renzo um. »Du hast es gehört. Lass es fahren.«

»Halt, halt, du hast es weiß Gott eilig!« Renzo zog ein Bündel unter seinem altmodischen Umhang hervor und warf es Scipio zu. »Wenn du nicht gleich aus deinen Hosen platzen willst, dann zieh dir etwas davon an. Es

sind alte Sachen von mir, oder sagen wir, vom Conte.« Scipio kletterte nur widerstrebend von dem Seepferd herunter. Als er in Renzos Kleider geschlüpft war, musste Prosper sich das Lachen verkneifen.

»Lach nicht!«, knurrte Scipio und warf ihm seine Sachen zu. Dann krempelte er die viel zu langen Ärmel um, zog die um seine Beine schlackernde Hose hoch und stieg umständlich wieder auf das Seepferd. »Die Schuhe werden mir von den Füßen fliegen!«, schimpfte er.

»Solange du nicht selbst herunterfällst.« Renzo ging zu Scipio hinüber und legte die Hand auf den Rücken des Seepferds. »Halte dich gut fest. Nur ein Stoß und es wird sich drehen, schneller und schneller, bis du abspringst. Noch kannst du es dir anders überlegen.« Scipio knöpfte sich die weite Jacke zu. »Abspringen, auch das noch«, sagte er. »Nicht, dass ich es vorhabe, aber - kann man es auch wieder rückgängig machen?« Renzo zuckte die Achseln. »Wie du siehst, habe ich es noch nicht versucht.«

Scipio nickte und blickte zu Prosper hinunter, der ein paar Schritte zurückgetreten war. Die Schatten der Bäume verschluckten ihn fast. »Komm doch auch, Prop!«

Scipio sah Prosper so bittend an, dass der nicht wusste, wo er hinsehen sollte. Trotzdem schüttelte er den Kopf. »Na gut, selber schuld!« Scipio setzte sich kerzengerade auf. Die Jackenärmel rutschten ihm über die Hände. »Los geht es!«, rief er.

»Und ich schwöre, dass ich erst abspringen werde, wenn ich mich rasieren muss!«

Da gab Renzo dem Seepferd einen Stoß.

Mit sanftem Ruck setzte das Karussell sich in Bewegung, das alte Holz ächzte und knarrte. Renzo trat zurück an Prospers Seite. »Juuuh!«, hörte Prosper Scipio rufen. Er sah, wie Scipio sich tief über den Hals des fischschwänzigen Pferdes beugte. Schneller und schneller drehten sich die Figuren, als stieße die Zeit selbst sie mit unsichtbarer Hand an. Prosper wurde schwindelig, als er versuchte Scipio mit den Augen zu folgen. Er hörte ihn lachen, und plötzlich spürte er, wie sich ein seltsames Glücksgefühl in ihm breit machte. Das Herz wurde ihm leicht, als die Figuren an ihm vorbeiwirbelten, so leicht wie seit langem nicht mehr. Er schloss die Augen und ihm war, als verwandelte er sich in den geflügelten Löwen. Er breitete die Schwingen aus, flog davon. Hoch. Höher.