Und wieder stürmten die Bilder auf Ross ein, und es spielte keine Rolle mehr, ob er die Augen geöffnet oder geschlossen hatte.
Bilder von Alice aus sonnigen, unbeschwerten Tagen… Wie hübsch sie aussah mit ihren kurzgeschnittenen Haaren, den zierlichen Lippen und den vollen natürlichen Augenbrauen — wie ein Junge! Das hatte er ihr damals auch gesagt. Und wie oft hatten sie sich gemeinsam in den Wellen getummelt… dann sahen ihre Haare aus wie eine Badehaube. Aber Alice war eine echte Frau, darüber täuschte auch ihre burschikose Kleidung nicht hinweg. Und sie war immer für ihn da.
Überall sah er ihr Bild, ihre im warmen Sand ausgestreckte Gestalt, ihre weiche, sonnengebräunte Haut, ihren lockenden Mund. Alice war ein verspieltes Geschöpf, und so hingebungsvoll ihre Küsse waren, konnte sie dennoch nie ganz ernst bleiben. Ja, sie hatten am Strand gelegen und das Rauschen der Brandung in den Ohren. Jetzt war dieses Rauschen unheimlich und die Wellenberge widerlich schwarz…
Aber diese Bilder konnten Ross nicht trösten, sondern trieben ihn eher der Verzweiflung in die Arme. Es kam ihm vor, als läge das alles nur zwei, drei Tage zurück, und doch waren es Jahrhunderte. Ross spürte noch die Lippen Alices, als sie sich damals vor Beginn seines Tiefschlafs von ihm verabschiedete. Sie sagte noch ein paar scherzhafte Worte zu ihm, doch in ihren Augen standen Tränen. Ross hörte auch noch die polternde Stimme Doktor Pellews, der „Gute Nacht, junger Mann, und viel Glück“ zu ihm sagte.
Viel Glück… Ross lachte bitter. Wäre er doch nie mehr aus dem Tiefschlaf erwacht…!
Manchmal sehnte sich Ross nach dem Tod.* Aber er war zu jung und gesund, um an Kummer zu sterben. Und zweifellos achtete die Robotschwester auf derartige Gemütsbewegungen; sie würde ihn rechtzeitig ins Leben zurückrufen. Es war besser, sich vorerst mit einem Leben unter Robotern abzufinden und die Beschaffenheit ihrer Mechanismen zu studieren, das würde ihn zerstreuen.
Immerhin hatte die Robotschwester nichts gegen seine Bitte einzuwenden, etwas lesen zu dürfen. Das erste Buch, das sich Ross bringen ließ, war selbstverständlich das Diarium Doktor Pellews. Er las es sorgfältig von Anfang bis Ende und verglich den Inhalt mit den Formblättern der grünen Aktenmappe. Jetzt wußte er genau, was im Hospital geschehen war und wann es geschehen war. Doktor Pellew hatte das Diarium geführt, weil es das Reglement eines Hospitals so verlangte, doch je weiter die Blätter sich dem Ende näherten, um so häufiger wurden die Anweisungen und Vorschläge, die sich auf Ross bezogen. Doktor Pellew hatte gewußt, daß Ross der einzige Überlebende sein würde, der eine medizinische Ausbildung genossen hatte.
Er ließ sich wissenschaftliche Werke bringen, deren Titel Doktor Pellew in seinen Eintragungen genannt hatte. Es handelte sich überwiegend um Werke, die die Entstehungs- und Vererbungslehre der Menschheit beschrieben. Damals glaubte man, den Menschen noch retten zu können. Für seine Informationen benötigte Ross einschlägige Fachliteratur über Roboter und Automaten. Eines dieser Bücher trug die Bezeichnung,Volkstümliche Abhandlung’, doch Ross konnte den Inhalt kaum verstehen. Es war zu lange her, er hatte das Wissen von Jahrhunderten nachzuholen. Er begann schon Pläne zu schmieden für den Augenblick, an dem ihn die Robotschwester nicht mehr mit,Mister Ross’ anreden würde.
Eines Tages — Ross wußte natürlich nicht, ob draußen Tag oder Nacht herrschte — war es dann so weit. Ein Roboter kam hereingerollt, servierte ihm drei Lebensmittelkonserven und fragte: „Haben Sie irgendwelche Wünsche, Sir?“
Ross sagte ja und erteilte seine Anweisungen, während er sich eine neue Toga aus Bettüchern anzog. Einige Anweisungen, befürchtete er, würden die Roboter kaum in die Tat umsetzen können. Zunächst verlangte er die Krankheitsgeschichten jener Patienten, die in der Zeitspanne zwischen Doktor Pellews Tod und seinem Wiedererwachen gestorben waren. Er hatte keine Hoffnung, noch im Tiefschlaf befindliche Patienten zu sehen, zumal die Robotschwester bestätigt hatte, daß keine Überlebenden mehr vorhanden waren. Doch aus den Eintragungen Doktor Pellews ging hervor, daß er der einzige Tiefschlafpatient mit medizinischen Kenntnissen war. Bestand da nicht die Möglichkeit, daß es doch noch andere Patienten gab? Dieser Punkt mußte geklärt werden. Zweitens verlangte er eine genaue Aufstellung des Roboterpersonals innerhalb des Hospitals, ihre Nummern, Typen, Speicherkapazität beziehungsweise Intelligenzgrad und besondere Fähigkeiten. Die reparaturbedürftigen Roboter sollten ausgebessert werden. Drittens forderte er eine Überprüfung der Trinkwasservorräte, Lebensmittel und Kraftanlagen. An Hand der Eintragungen wußte er, daß die Robotschwester seine Anweisungen drahtlos an die Roboter der oberen Etappen weitergeben konnte.
Ross holte tief Luft und fuhr fort: „Du wirst dafür sorgen, daß die oberen Etappen aufgeräumt werden einschließlich der Lifts und Lautsprecheranlagen. Und ganz oben, das heißt auf der Erdoberfläche, soll ebenfalls die Asche weggefegt werden. Dann brauche ich Erd- und Gesteinsproben aus jeweils einem Fuß Tiefe und einer Gesamttiefe von zwanzig Fuß. Ich brauche auch einige Luft- und Meerwasserproben.“ Ross zögerte einen Augenblick und fragte: „Seid ihr in der Lage, selber Analysen zu machen und auszuwerten?“
„Nein, Sir“, antwortete die Robotschwester. „Ich nehme jedoch an, daß es die Schwestern der pathologischen Abteilung machen können.“
„Okay, dann weise sie in ihr neues Aufgabengebiet ein.“
Ein Reinigungsroboter rollte mit einem Päckchen weißer Laken herein und begann sein Bett aufzuschütteln und frisch zu beziehen. Die Notizen, die sich Ross gemacht hatte, flatterten zu Boden. Der Roboter hob sie sofort auf… und warf sie in den Papierkorb!
„Ich möchte die Notizen wieder haben“, sagte Ross ärgerlich.
Der Roboter fragte tickend sein Elektronenhirn, bekam eine positive Antwort, bückte sich und klaubte die Blätter wieder heraus.
„Von jetzt an“, sagte Ross, „räume ich hier selber auf. Reinigungsrobotern ist der Zutritt nicht gestattet, es sei denn, ich rufe nach ihnen. Okay?“
Der Roboter tickte fragend.
„Hast du mich verstanden?“ vereinfachte Ross. — „Ja, Sir.“
Kurz danach brachte ein Roboter die gewünschten Unterlagen. Es waren fünf Bände, gefüllt mit den Krankheitsgeschichten schwerleidender Patienten.
Auch hier las er die Worte: Der Zustand des Patienten hat sich gebessert; mit seiner endgültigen Wiederbelebung dürfte dann und dann zu rechnen sein.
Die Zahl der angegebenen Jahre schwankte zwischen vierzig und fünfundsiebzig. Doch im Gegensatz zu seiner Krankheitsgeschichte endeten sie alle mit dem Vermerk,gestorben’. In allen Fällen zeichnete Stationsschwester 5 B’. Ross war nicht ganz geheuer zumute; zum erstenmal seit seiner Bekanntschaft mit den Robotern fürchtete er sich vor ihnen.
„Warum mußten diese Patienten sterben?“ fragte er den Roboter scharf. „Erzähle mir die genauen Umstände!“
Die Robotschwester tickte ein paarmal und sagte dann: „Doktor Pellew hat uns Anweisung gegeben, die Termine zur Wiederbelebung der Patienten strikt einzuhalten. Auch vor seinem Tode hat er diese Anweisung nicht geändert. Darum haben wir alle Patienten termingemäß wiedererweckt. Ich trug die Hauptverantwortung und arbeitete mit zwei Gehilfen zusammen. Wir hatten die Aufgabe, den Patienten nach dem Erwachen zu beruhigen, damit er keinen Schock erleidet.“