»Hat das überhaupt einen Sinn, Lord Gawyn?« fragte Hai Moir. Er war zwei Jahre älter als Jisao, und wie viele derer, die kein Zeichen der silbernen Burg trugen, bedauerte er, nicht dabeigewesen zu sein. Er würde es auch noch lernen. »Es ist überhaupt nichts von Aielmännern zu sehen.«
»Glaubst du?« Ohne eine warnende Geste schleuderte Gawyn einen Stein mit aller Kraft gegen den einzigen Busch, der sich in ihrer Nähe befand, ein ziemlich dürres Gestrüpp nur. Nur das Rascheln abgestorbener Blätter war zu hören, doch der Busch bebte ein wenig stärker, als zu erwarten gewesen war, ganz so, als sei ein Mann, der sich — wie auch immer —dahinter verbarg, an einer empfindlichen Körperstelle getroffen worden. Die Neuen kommentierten die Bewegung erstaunt, während Jisao lediglich sein Schwert lockerte. »Hai, ein Aiel kann sich in einer Mulde am Boden verstecken, über die du nicht einmal stolpern würdest.« Nicht, daß Gawyn mehr über die Aiel gewußt hätte als das, was in den Büchern stand, aber er hatte jedes Buch in der Bibliothek der Weißen Burg aufgestöbert das jemand geschrieben hatte, der tatsächlich gegen sie gekämpft hatte, jedes Buch von einem Soldaten, der zu wissen schien, wovon er berichtete. Ein Mann mußte sich auf die Zukunft vorbereiten, und die Zukunft der Welt schien vor allem aus Krieg zu bestehen. »Aber wenn es dem Licht gefällt, wird heute nicht mehr gekämpft.«
»Lord Gawyn!« erscholl ein Ruf von weiter oben am Hügel, wo der Wachtposten gerade dasselbe entdeckt hatte wie er: drei Frauen, die aus einem kleinen Wäldchen ein paar hundert Schritt westlich getreten waren und auf den Hügel zuschritten. Im Westen: eine Überraschung. Aber die Aiel liebten ja Überraschungen.
Er hatte davon gelesen, daß Aielfrauen mit ihren Männern in den Kampf zogen, aber mit diesen dunklen, bauschigen Röcken und den weißen Blusen konnten die drei wohl kaum kämpfen. Sie hatten sich trotz der Hitze Schals um die Arme geschlungen. Andererseits, wie hatten sie dieses Wäldchen überhaupt ungesehen erreichen können? »Haltet die Augen offen und gafft diese Frauen nicht an!« sagte er, und dann mißachtete er den eigenen Befehl, denn er beobachtete aufmerksam und interessiert die drei Weisen Frauen, die Abgesandten der Shaido Aiel. Hier draußen konnten sie nichts anderes sein als Abgesandte.
Sie kamen gemäßigten Schrittes näher, überhaupt nicht so, als näherten sie sich einer großen Gruppe bewaffneter Männer. Ihr Haar trugen sie lang, bis zur Hüfte, dabei hatte er gelesen, daß die Aiel die Haare immer kurz schnitten, und sie hatten es mit zusammengerollten Tüchern zurückgebunden. Dazu hatten sie derart viele Armreifen und Halsketten aus Gold und Silber und Elfenbein angelegt daß das Glitzern ihre Anwesenheit schon auf eine Meile Entfernung verraten hätte.
Hoch aufgerichtet und mit stolzen Mienen schritten die drei Frauen an den Soldaten vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und stiegen den Hügel empor. Ihre Anführerin hatte goldenes Haar und die weite Bluse so tief geöffnet, daß eine beachtliche Fülle sonnengebräunten Busens zu sehen war. Die anderen beiden waren grauhaarig, und ihre Gesichtshaut wirkte wie gegerbtes Leder; sie mußten bestimmt doppelt so alt sein.
»Ich hätte nichts dagegen, die vordere zum Tanz zu begleiten«, sagte einer der Jünglinge bewundernd, als die Frauen vorübergeschritten waren. Dabei war er mindestens zehn Jahre jünger als die goldhaarige Frau. »Würde ich nicht, wenn ich du wäre, Arwin«, bemerkte Gawyn trocken. »Sie könnte das mißverstehen.« Er hatte nämlich gelesen, daß die Aiel den Kampf als ›den Tanz‹ bezeichneten. »Außerdem würde sie vermutlich deine Leber zum Abendessen verspeisen.« Er hatte ganz kurz ihre hellgrünen Augen sehen können, und es waren die härtesten Augen gewesen, die er jemals erblickt hatte.
Er beobachtete die Weisen Frauen, bis sie den Hügel erklommen hatten und sich einem halben Dutzend Aes Sedai näherten, die dort mit ihren Behütern warteten. Diejenigen jedenfalls, die Behüter hatten; zwei gehörten den Roten Ajah an, und die hatten ja keine. Als die Frauen in einem der hohen, weißen Zelte verschwanden und die Behüter als Wächter ihre Posten um das Zelt bezogen hatten, fuhr er mit seiner Runde um den Hügel fort.
Die Jünglinge waren äußerst aufmerksam, seit sich die Kunde von der Ankunft der Aiel verbreitet hatte, und das paßte ihm nicht. Sie hätten vorher genauso aufmerksam wachen müssen. Auch die meisten derjenigen, die keine silberne Burg angesteckt hatten, waren in der Umgebung Tar Valons bereits in Kämpfe verstrickt gewesen. Eamon Valda, der befehlshabende Lordhauptmann der Weißmäntel, hatte vor mehr als einem Monat die meisten seiner Männer in Richtung Westen abgezogen, doch die Handvoll derer, die er zurückgelassen hatte, bemühte sich, die Truppe der Räuber und Schläger, die Valda dort versammelt hatte, einigermaßen zusammenzuhalten. Nun, wenigstens die hatten die Jünglinge mittlerweile auseinandergetrieben. Gawyn hätte ja gern der Versuchung nachgegeben, sich einzubilden, sie hätten auch Valda vertrieben. Die Burg hatte ihre eigenen Soldaten aus diesen Scharmützeln vorsichtig herausgehalten, obwohl schließlich die Weißmäntel nur aus dem Grund überhaupt anwesend waren, um der Burg soviel Schaden wie möglich zuzufügen. Nein, er vermutete, Valda habe seine eigenen Gründe für diesen Rückzug gehabt. Wahrscheinlich Befehle von Pedron Niall, und Gawyn hätte viel dafür gegeben, zu erfahren, wie diese lauteten. Licht, wie er es haßte, nicht Bescheid zu wissen. Es war, als tappe man blind durch die Dunkelheit.
In Wahrheit, das gab er ja selbst zu, war er einfach gereizt. Nicht nur der Aiel wegen und weil man ihm bis zum heutigen Morgen nichts von diesem Treffen gesagt hatte. Man hatte ihm auch nicht mitgeteilt, wohin sie ziehen würden, bis ihn schließlich Coiren Sedai zur Seite gezogen hatte, die Graue Schwester, die diese Delegation von Aes Sedai anführte. Elaida war ja schon als Ratgeberin seiner Mutter in Caemlyn verschwiegen und herrschsüchtig gewesen, aber seit man sie zur Amyrlin erhoben hatte, erschien ihm die alte Elaida noch warm und offen, verglichen mit der jetzigen. Zweifellos hatte sie den Druck auf ihn ausgeübt, unter dem er diese Eskorte zusammengestellt hatte, sowohl, um ihn in Tar Valon loszuwerden, wie auch aus anderen Gründen.
In den Auseinandersetzungen zuvor hatten sich die Jünglinge auf ihre Seite geschlagen, da die alte Amyrlin vom Burgsaal ganz offiziell abgesetzt worden war und man ihr Stola und Stab abgenommen hatte, und ein Versuch, sie zu befreien, war ganz einfach und sachlich gesehen ein Verstoß gegen das Gesetz, aber Gawyn hatte schon so seine Zweifel an den Aes Sedai gehabt, bevor er gehört hatte, welche Anklagen man gegen Siuan Sanche erhob. Daß sie die Fäden zogen und gekrönte Häupter nach ihrer Pfeife tanzen ließen, hatte er schon so oft gehört, daß er keinen Gedanken mehr daran verschwendete, aber dann hatte er zuschauen können, wie sie Menschen manipulierten. Zumindest die Folgen hatte er miterlebt, und seine Schwester Elayne war diejenige gewesen, die nach ihrer Pfeife tanzen mußte, geradewegs aus seiner Sicht und vielleicht sogar — was wußte er schon? — aus ihrem eigenen Leben. Sie und eine andere. So hatte er zuerst gekämpft, um Siuan im Gefängnis festzuhalten, und dann hatte er sich abgewandt und sie entkommen lassen. Falls Elaida jemals dahinterkam, würde ihm auch die Krone seiner Mutter nicht mehr das Leben retten.