Sie mußte sorgfältig nachdenken. Es hing alles miteinander zusammen, aber bei gut durchdachten Lügen wäre das genauso, und dieser Mann war bestimmt ein Meister der Lüge. Sie brauchte Tatsachen. Daß man sie in Andor für tot hielt, war keine Überraschung, denn sie hatte sich ja heimlich aus ihrem eigenen Herrschaftsbereich wegschleichen müssen, um Gaebril zu entgehen und denjenigen, die sie an Gaebril verraten hätten, weil sie oder Gaebril selbst ihnen zuviel Unrechtes angetan hatten. Wenn durch die Falschmeldung über ihren Tod nun Mitleid aufkam, könnte ihr das durchaus von Nutzen sein, sollte sie plötzlich wieder von den Toten auferstehen. Tatsachen. »Ich brauche Zeit zum Nachdenken«, sagte sie zu ihm.
»Selbstverständlich.« Niall erhob sich geschmeidig. Sie hätte sich ebenfalls erhoben, damit er nicht so über sie aufragte, doch sie war nicht sicher, ob ihre Beine sie trügen. »Ich werde in ein oder zwei Tagen wiederkommen. Mittlerweile möchte ich aber Gewißheit haben, daß Ihr Euch in Sicherheit befindet. Ailron ist so sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, daß man nicht sagen kann, wer sich alles einschleichen könnte, vielleicht sogar mit der Absicht, Euch Schaden zuzufügen. Ich habe mir die Freiheit genommen, ein paar der Kinder hier als Wachen aufzustellen. Mit Ailrons Zustimmung natürlich.«
Morgase hatte immer gehört, die Weißmäntel seien die wahren Machthaber Amadicias. Sie war sicher, daß sie den Beweis dafür gerade erhalten hatte.
Niall benahm sich beim Gehen wenigstens etwas förmlicher als beim Kommen und verbeugte sich tief genug, wie man es bei einem Gleichgestellten üblicherweise tat. Wie sie es auch immer betrachtete: Er ließ sie wissen, sie habe gar keine andere Wahl.
Kaum war er draußen, sprang Morgase auf, aber Breane kam ihr noch zuvor und war schneller als sie an der Tür. Doch bevor eine von ihnen dort angekommen war, flog die Tür auch schon auf und Tallanvor und die beiden anderen Männer eilten in den Raum.
»Morgase«, ächzte Tallanvor und verschlang sie beinahe mit den Augen. »Ich fürchtete schon...«
»Ihr fürchtet?« fragte sie verächtlich. Es war zuviel — er lernte es einfach nicht. »Beschützt Ihr mich so? Das hätte auch noch ein kleiner Junge gekonnt! Nun, es war ja wohl auch ein kleiner Junge, der mich beschützt hat.«
Dieser glühende Blick ruhte noch einen Moment länger auf ihr, und dann wandte er sich ab und schob sich an Basel und Lamgwin vorbei hinaus.
Der Wirt stand da und rang die Hände. »Sie waren mindestens dreißig, meine Königin. Tallanvor hätte gekämpft; er versuchte auch zu schreien, um Euch zu warnen, aber einer hat ihm den Schwertknauf über den Kopf geschlagen. Der Alte sagte, sie wollten Euch nichts antun, aber sie wollten nur von Euch etwas, und falls sie gezwungen wären, uns zu töten...« Sein Blick huschte zu Lini und Breane hinüber, die derweil Lamgwin von Kopf bis Fuß musterte, ob er eine Verletzung aufweise. Der Mann schien genauso besorgt ihretwegen. »Meine Königin, wenn ich geglaubt hätte, daß wir etwas ausrichten könnten... Es tut mir leid. Ich habe versagt.«
»Die rechte Medizin schmeckt immer bitter«, murmelte Lini leise. »Vor allem für ein Kind, das vor lauter Schmollen beinahe einen Wutanfall bekommt.« Ausnahmsweise sagte sie es diesmal leise genug, daß nicht der ganze Raum mithörte.
Sie hatte recht. Das war Morgase klar. Bis auf den Wutanfall natürlich. Basel blickte so schuldbewußt drein, daß er wohl selbst einer Enthauptung zugestimmt hätte. »Ihr habt nicht versagt, Meister Gill. Vielleicht bitte ich Euch eines Tages, für mich zu sterben, aber nur, wenn damit etwas Größeres erreicht werden kann. Niall wollte nur mit mir sprechen.« Basel blickte sofort erleichtert drein, doch Morgase spürte Linis Blick ganz deutlich in ihrem Rücken. Ziemlich bitter, die Medizin. »Bittet doch Tallanvor, zu mir zu kommen. Ich ... ich möchte mich bei ihm für meine überhasteten Worte entschuldigen.«
»Die beste Methode, sich bei einem Mann zu entschuldigen«, sagte Breane, »ist die, ihn in einem abgelegenen Teil des Gartens flachzulegen.«
Nun riß Morgase der Geduldsfaden. Bevor ihr bewußt wurde, was sie tat, hatte sie bereits ihren Weinpokal nach der Frau geworfen, wobei der Wein auf den Teppich spritzte. »Raus!« kreischte sie. »Raus mit Euch allen! Ihr könnt Tallanvor meine Entschuldigung ausrichten, Meister Gill.«
Breane wischte sich gelassen Wein vom Kleid und ließ sich dann Zeit, als sie zu Lamgwin ging und ihren Arm bei ihm einhakte. Basel hüpfte vor Ungeduld fast auf und ab, so eilig hatte er es, sie hinauszugeleiten.
Zu Morgases Überraschung ging auch Lini hinaus. Das war gar nicht Linis Art; viel wahrscheinlicher war bei ihr, daß sie dablieb und ihrem ehemaligen Schützling einen Vortrag hielt, als sei diese noch immer zehn Jahre alt. Morgase wußte selbst nicht, warum sie das für gewöhnlich ertrug. Trotzdem — beinahe wären ihr die Worte entschlüpft, um Lini zum Bleiben zu bewegen. Beinahe. Doch dann waren alle draußen und die Tür geschlossen. Nun mußte sie über wichtigere Dinge nachdenken als Linis Gefühle und ob sie gekränkt sei.
Sie schritt auf dem Teppich hin und her und bemühte sich, nachzudenken. Ailron würde Handelserleichterungen und vielleicht auch Nialls ›Opfer‹ verlangen, wenn er ihr half. Sie würde ja durchaus einen speziellen Handelsvertrag mit ihm abschließen, aber andererseits fürchtete sie, Niall könne recht haben in bezug auf die Anzahl von Soldaten, die Ailron ihr zur Verfügung stellen könne. Nialls Forderungen zu erfüllen wäre leichter, auf gewisse Weise jedenfalls. Möglich, daß er freien Zugang nach Andor verlangte, wie viele Weißmäntel er auch entsenden wollte. Und die Genehmigung, daß sie jeden Schattenfreund aus jedem Dachboden herauszerren durften, daß sie die Volksmenge gegen wehrlose Frauen aufhetzen durften, die sie der Zugehörigkeit zu den Aes Sedai beschuldigten, und wirkliche Aes Sedai zu töten. Niall würde vielleicht sogar ein Gesetz gegen den Gebrauch der Macht von ihr verlangen und ein Verbot für alle Frauen, sich zur Weißen Burg zu begeben.
Es wäre möglich, wenn auch schwierig und verlustreich, die Weißmäntel wieder hinauszuwerfen, wenn sie einmal da waren, aber war es überhaupt notwendig, sie hereinzulassen? Rand al'Thor war der Wiedergeborene Drache, da war sie sicher, gleich, was Niall behaupten mochte; fast sicher jedenfalls, aber Länder zu regieren gehörte nicht zu den Aufgaben, von denen sie in den Prophezeiungen des Drachen gelesen hatte. Wiedergeborener Drache oder falscher hin und her, er hatte kein Recht auf Andor. Aber wie sollte sie herausfinden, was nun stimmte?
Ein schüchternes Kratzen an der Tür ließ sie herumfahren. »Herein!« sagte sie in scharfem Ton.
Die Tür öffnete sich langsam, und ein grinsender junger Mann in goldener und roter Livree stand davor mit einem Tablett, auf dem ein Krug mit gekühltem Wein stand. Das Silber lief von der Kälte bereits an. Sie hatte eigentlich fast erwartet, Tallanvor zu erblicken. Doch Lamgwin stand allein im Korridor Wache, soweit sie sehen konnte. Oder besser, er lehnte lässig an der Wand wie ein Rausschmeißer in einer Taverne. Sie gab dem jungen Mann einen Wink, das Tablett abzustellen.
Ärgerlich — denn eigentlich hätte Tallanvor wirklich kommen sollen, wirklich! — nahm sie ihr Herumgetigere wieder auf. Basel und Lamgwin konnten in den nahegelegenen Dörfern möglicherweise Gerüchte aufschnappen, aber das waren dann eben wieder nur Gerüchte und noch dazu vielleicht von Niall ausgestreut. Das gleiche galt auch für die Diener im Palast.
»Meine Königin? Darf ich sprechen, meine Königin?«