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Unbewußt stellte sich Mesaana ein wenig auf die Zehenspitzen, und trotzdem mußte sie zur anderen aufblicken. Semirhage war größer als die meisten Männer, verfügte aber über solch perfekte Proportionen, daß man sich ihrer Größe erst bewußt wurde, wenn sie direkt vor einem stand und herabblickte. »Gehen? Ich werde gehen. Und er kann...«

Es gab natürlich keine Vorwarnung. Das gab es nie, wenn es ein Mann war, der die Macht benützte. Eine helle, senkrechte Linie erschien in der Luft und erweiterte sich dann, während sich das Tor zur Seite drehte, um sich lange genug zu Öffnen, daß Demandred hindurchtreten konnte, wobei er sich vor jeder der beiden leicht verbeugte. Heute war er ganz in Dunkelgrau gekleidet, mit einer schmalen, hellen Halskrause aus Spitzen. Er paßte sich problemlos den Modeerscheinungen und Stoffen dieses Zeitalters an.

Sein Profil mit der Hakennase war durchaus anziehend, aber nicht unbedingt von der Sorte, die Frauenherzen schneller schlagen läßt. Und auf gewisse Weise war es gerade dieses ›durchaus‹ oder ›nicht unbedingte aus dem sich die ganze Lebensgeschichte Demandreds ablesen ließ. Er hatte das Pech gehabt, einen Tag nach Lews Therin Telamon geboren zu werden, der zum Drachen wurde. Während Barid Bei Medar, wie er ursprünglich hieß, Jahre damit verbrachte, durchaus den von Lews Therin gesetzten Maßstäben nachzueifern, konnte er Lews Therins Ruhm nicht unbedingt erreichen. Wäre Lews Therin nicht gewesen, wäre er zweifellos der berühmteste Mann seines Zeitalters gewesen. Hätte ihn das Schicksal dazu bestimmt, die Menschheit zu führen, anstatt dieses Mannes, den er als intellektuell unter ihm stehend betrachtete, als einen übervorsichtigen Narren, der nur zu häufig auf reines Glück angewiesen war, stünde er dann heute hier? Nun, das waren überflüssige Gedankengänge, die ihr allerdings auch schon früher durch den Kopf gegangen waren. Nein, der entscheidende Punkt war der, daß Demandred den Drachen verachtete, und nun, da der Drache wiedergeboren worden war, hatte er diese Verachtung voll und ganz auf den neuen übertragen.

»Warum...?«

Demandred hob eine Hand. »Laßt uns warten, bis wir alle hier versammelt sind, Mesaana, damit ich mich nicht wiederholen muß.«

Sie spürte ein erstes Weben von Saidar einen Augenblick, bevor die glühende Linie wieder in der Luft erschien und sich zu einem Tor öffnete. Graendal trat heraus, ausnahmsweise einmal nicht von halbbekleideten Dienern umgeben, und sie ließ die Öffnung genausoschnell verschwinden wie Demandred zuvor. Sie war eine mollige Frau mit kunstvoll gelocktem, rotgoldenem Haar. Irgendwo hatte sie tatsächlich Streith für ihr hochgeschlossenes langes Kleid aufgetrieben. Ihrer Stimmung entsprechend wirkte der Stoff gerade wie aus durchsichtigem Wasserstaub gewebt. Manchmal fragte sich Mesaana, ob Graendal, abgesehen von ihren sinnlichen Ausschweifungen, noch irgend etwas anderes bemerkte.

»Ich hatte mich gefragt, ob Ihr wirklich kommen würdet«, sagte die neu Angekommene im Plauderton, »Ihr drei habt so geheimnisvoll getan.« Sie lachte fröhlich und ein wenig naiv. Nein, es wäre ein verhängnisvoller Fehler, Graendal für das zu halten, was sie äußerlich schien. Die meisten, die sie als Närrin betrachtet hatten, waren mittlerweile schon lange tot, Opfer genau der Frau, die sie mißachtet hatten.

»Kommt Sammael auch?« fragte sie.

Graendal winkte mit einer stark beringten Hand ab, »Ach, er traut euch nicht. Ich glaube nicht, daß er sich überhaupt selbst noch traut.« Das Streith wurde dunkler, zu einem alles verbergenden Nebel. »Er sammelt sein Heer in Illian und jammert, weil er keine Schocklanzen hat, um sie damit zu bewaffnen. Und wenn er gerade nicht jammert, sucht er nach brauchbaren Angreal oder Sa Angreal. Nach solchen natürlich, die stark genug sind.«

Aller Augen wandten sich Mesaana zu, und sie atmete tief durch. Jeder von ihnen hätte — na ja, beinahe alles — für einen brauchbaren Angreal oder Sa'Angreal gegeben. Jeder war stärker als alle diese halb ausgebildeten Kinder, die sich heutzutage Aes Sedai nannten, aber genügend dieser halb ausgebildeten Kinder miteinander verknüpft, und sie konnten alle Auserwählten besiegen. Abgesehen davon — natürlich —, daß sie nicht mehr wußten, wie, und daß sie sowieso nicht mehr die Mittel dazu besaßen. Man brauchte Männer, um eine Verknüpfung von mehr als dreizehn zusammenzuhalten, und mehr als einen Mann, um über siebenundzwanzig hinauszugehen. Tatsächlich stellten diese Mädchen —selbst die ältesten unter ihnen waren für sie nur Mädchen, denn sie hatte mehr als dreihundert Jahre lang gelebt, und dazu kam all die Zeit, die sie im Stollen eingeschlossen gewesen waren, und selbst jetzt betrachtete man sie nur als eine Frau von mittleren Jahren —, stellten diese Mädchen also keine echte Gefahr dar, aber das minderte keineswegs das Verlangen der hier Versammelten nach einem Angreal oder noch besser einem viel mächtigeren Sa'Angreal. Mit Hilfe dieser Überbleibsel aus ihrem eigenen Zeitalter konnten sie Ausmaße der Macht beherrschen, die sie ohne diese Hilfe zu Asche verbrannt hätten. Jeder von ihnen würde für einen solchen Preis vieles riskieren. Aber nicht alles. Nicht ohne eine zwingende Notwendigkeit. Doch daß diese im Moment nicht gegeben war, minderte das Verlangen keineswegs.

Automatisch verfiel Mesaana in einen belehrenden Tonfalclass="underline" »Die Weiße Burg hat nunmehr Wachen und Wachgewebe an ihren Schatzkammern, innen und außen, und überdies zählen sie alle Gegenstände viermal am Tag. Die Große Schatzkammer im Stein von Tear wird ebenfalls von Wachgeweben geschützt und von einem ekelhaften Ding, das mich festgehalten hätte, hätte ich versucht, hineinzugehen oder das Gewebe aufzulösen. Ich glaube nicht, daß es aufgelöst werden kann, außer eben von derjenigen, die es gewebt hat, und bis dahin ist es eine Falle für jede Frau, die mit der Macht umgehen kann.«

»Ein staubiger Haufen unnützen Schrotts, wie ich gehört habe«, bemerkte Demandred abfällig. »Die Tairener haben alles gesammelt, was auch nur gerüchteweise mit der Macht zu tun hatte.«

Mesaana vermutete, daß er das nicht nur nach dem Hörensagen beurteilte. Sie vermutete ebenfalls, daß um die Große Schatzkammer auch eine Falle für Männer gewoben worden war, sonst hätte Demandred schon lange seinen ersehnten Sa'Angreal und hätte sich Rand al'Thor entgegengestellt. »Zweifellos befinden sich auch einige in Cairhien und Rhuidean, aber selbst wenn man nicht gerade auf al'Thor stößt, sind beide Städte doch voll von Frauen, die mit der Macht umgehen können.«

»Ignorante Mädchen«, schnaubte Graendal.

»Wenn ein Küchenmädchen dir ein Messer in den Rücken rammt«, sagte Semirhage kühl, »bist du dann weniger tot als nach einer Niederlage in einem Sha'je Duell in Qal?«

Mesaana nickte. »Dann bleibt nur das übrig, was vielleicht unter uralten Ruinen begraben ist oder vergessen auf einem Dachboden verstaubt. Falls ihr darauf zählt, per Zufall etwas zu finden, dann wartet meinetwegen. Ich werde nicht warten. Außer, jemand von Euch weiß, an welchem Ort ein Stasiskasten verborgen ist?« Das Letzere klang ziemlich trocken. Die Stasiskästen hätten eigentlich die Zerstörung der Welt überstehen müssen, aber diese Erdbeben und Vulkanausbrüche, die ganzen Umwälzungen an der Erdoberfläche, hatten sie wahrscheinlich irgendwo auf einem Meeresgrund oder unter Bergen verschüttet. Nur wenig war noch übrig von der Welt, die sie gekannt hatten; höchstens ein paar Namen und Legenden.

Graendals Lächeln schien zuckersüß. »Ich war schon immer der Meinung, du hättest Lehrerin werden sollen. Oh, tut mir leid. Ich vergaß ...«

Mesaanas Gesicht lief dunkel an. Ihr Weg zum Großen Herrn hatte begonnen, als man ihr vor so vielen Jahren einen Lehrstuhl im Collam Daan verweigerte. Für die Forschung nicht geeignet, hatte man ihr gesagt, aber sie könne ja immerhin noch als Lehrerin arbeiten. Also hatte sie gelehrt, bis sie eine Möglichkeit fand, ihnen allen eine Lektion zu erteilen!