»Ich warte immer noch darauf, zu erfahren, was der Große Herr gesagt hat«, murmelte Semirhage.
»Ja. Sollen wir al'Thor töten?« Mesaana wurde bewußt, daß sie beide Hände in ihren Rock verkrampft hatte, und sie ließ los. Seltsam. Sie ließ sich doch sonst von niemandem provozieren. »Wenn alles gutgeht, wird er sich in zwei, höchstens drei Monaten dort befinden, wo ich ihn problemlos erreichen kann, und er wird völlig hilflos sein.«
»Wo du ihn problemlos erreichen kannst?« Graendal zog fragend eine Augenbraue hoch. »Wo hast du denn nun eigentlich dein Netz gesponnen? Ach, spielt keine Rolle. So wenig das ist, ist es doch genauso gut wie jeder andere Plan, den ich in letzter Zeit gehört habe.«
Immer noch schwieg Demandred, stand nur da und musterte sie. Nein, Graendal nicht. Semirhage und sie. Und als er schließlich etwas sagte, war es mehr zu sich selbst und nur so halb zu ihnen: »Wenn ich daran denke, in welche Lage ihr beide euch versetzt habt, dann frage ich mich manchmal, wieviel der Große Herr davon weiß und wie lange schon. Wieviel von alledem, was geschehen ist, war von Anfang an von ihm geplant?« Darauf gab es keine Antwort. Schließlich sagte er: »Ihr wollt wissen, was mir der Große Herr gesagt hat? Also gut. Aber es bleibt unter uns als striktes Geheimnis. Da Sammael es vorgezogen hat, uns fernzubleiben, wird er nichts erfahren. Und auch die anderen nicht, ob sie nun am Leben sind oder tot. Der erste Teil der Botschaft des Großen Herrn war sehr einfach: Laßt den Herrn des Chaos herrschen. Das waren seine genauen Worte.« Seine Mundwinkel zuckten, was einem Lächeln bei ihm so nahe kam, wie Mesaana es nur jemals erlebt hatte. Dann berichtete er ihnen das Übrige. Mesaana ertappte sich dabei, daß sie schauderte, ohne zu wissen, ob vor Erregung oder vor Entsetzen. Es könnte funktionieren und ihnen alles in die Hand geben, was sie benötigten. Aber Glück war auch dazu nötig, und bei Glücksspielen fühlte sie sich nicht wohl. Demandred war der Spieler unter ihnen. Er hatte in einer Hinsicht recht: Lews Therin hatte sein eigenes Glück gemacht wie eine frisch geprägte Münze. Wie es schien, tat Rand al'Thor bisher ihrer Meinung nach das gleiche.
Es sei denn... Es sei denn, der Große Herr hatte einen Plan über jenen hinaus, den er ihnen enthüllt hatte. Und das ängstigte sie mehr als jede andere Möglichkeit.
Das Abbild des Raums wurde von einem Spiegel mit vergoldetem Rahmen reflektiert: die beklemmenden Szenen auf den Mosaiken an den Wänden, die vergoldeten Möbel, die feingewebten Teppiche, die anderen Spiegel und die Wandbehänge. Ein fensterloser Raum in einem Palast. Es war auch keine Tür vorhanden. Im Spiegel war eine Frau sichtbar, die im Raum auf und ab schritt. Sie trug ein blutrotes langes Kleid, und auf ihrem schönen Gesicht zeigte sich eine Mischung aus Wut und Ungläubigkeit. Immer noch ungläubig. Das war auch seinem eigenen Gesicht abzulesen, was ihn viel mehr interessierte als die Frau. Er konnte dem Impuls nicht widerstehen, zum hundertstenmal seine Nase, den Mund und die Wangen zu berühren, um sicherzugehen, daß sie wirklich existierten. Nicht jung, aber jünger als das Gesicht, das er bei seinem ersten Erwachen aus dem langen Schlaf mit all seinen endlosen Alpträumen getragen hatte. Ein durchschnittliches Gesicht, und er hatte es immer gehaßt, durchschnittlich zu wirken. Er erkannte das Geräusch, das aus seiner Kehle aufstieg, als ein beginnendes Lachen, ein Kichern, und unterdrückte es. Er war doch nicht verrückt. Trotz allem, das war er nicht.
Ein Name war ihm während seiner zweiten, viel schrecklicheren Schlafperiode verliehen worden, bevor er mit diesem Gesicht und Körper erwachte: Osan'gar.
Den Namen hatte eine Stimme ausgesprochen, die er kannte und der er den Gehorsam nicht verweigern konnte. Sein alter Name, im Hohn gegeben und voller Stolz angenommen, war für immer vergangen. Die Stimme seines Herrn hatte gesprochen und es so werden lassen. Die Frau hieß Aran'gar. Wer sie gewesen war, existierte nicht mehr.
Diese Namen waren für sich schon aufschlußreich genug. Osan'gar und Aran'gar waren die Dolche einmal für die linke und dann für die rechte Hand bei einer Art von Duell, wie es für kurze Zeit populär gewesen war in den frühen Tagen jener langen Aufbauphase vom Beginn des Stollens bis zum tatsächlichen Ausbruch des Kriegs um die Macht. Seine Erinnerungen waren lückenhaft, denn sowohl während der langen wie auch während der kürzeren Schlafperiode war zuviel verlorengegangen, doch er erinnerte sich wenigstens daran. Die Popularität hatte nicht lang angehalten, denn fast unvermeidlich hatten beide Duellanten am Ende sterben müssen. Die Klingen dieser Dolche waren mit einem langsam wirkenden Gift bestrichen.
Etwas schob sich verschwommen in das Spiegelbild, und er wandte sich um, wenn auch nicht zu schnell. Er mußte im Kopf behalten, wer er war, und sichergehen, daß auch die anderen daran dachten. Es war immer noch keine Tür da, aber nun teilte ein Myrddraal den Raum mit ihnen. Weder das eine noch das andere waren an diesem Ort etwas Besonderes, doch der Myrddraal war größer als jeder andere, den Osan'gar jemals erblickt hatte.
Er nahm sich Zeit und ließ den Halbmenschen warten, ohne seine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Dann, bevor er den Mund öffnen konnte, fauchte Aran'gar: »Warum hat man mir das angetan? Warum stecke ich in diesem Körper? Warum?« Das letzte kam beinahe als Aufschrei heraus.
Osan'gar hatte den Eindruck, daß sich die blutleeren Lippen des Myrddraal zu einem Lächeln verzogen, doch das war unmöglich, hier oder anderswo. Selbst die Trollocs hatten einen Sinn für Humor, wenn auch schmutzig und gewalttätig, aber nicht die Myrddraal. »Man hat Euch beiden die besten gegeben, die in den Grenzlanden aufzutreiben waren.« Die Stimme klang wie das Geräusch einer Viper, die sich durch dürres Gras schob. »Es ist ein guter Körper, kräftig und gesund. Und besser als die Alternative.«
Beides stimmte natürlich. Es war ein guter Körper. Er hätte zu einer Daien-Tänzerin gepaßt, damals, in den alten Tagen, schlank und doch üppig, mit dem unvergleichlichen elfenbeinernen Oval eines grünäugigen Gesichts, eingerahmt von glänzend schwarzem Haar. Und der Alternative gegenüber war sowieso alles besser.
Vielleicht sah Aran'gar das nicht genauso. Der Zorn verzerrte dieses schöne Gesicht. Sie würde irgend etwas Leichtsinniges tun. Das wußte Osan'gar; in dieser Hinsicht war sie schon immer problematisch gewesen. Dagegen erschien Lanfear noch vorsichtig. Er griff nach Saidin. Hier die Macht zu benutzen mochte gefährlich sein, aber weniger gefährlich, als ihr eine echte Dummheit durchgehen zu lassen. Er griff also nach Saidin — und fand nichts. Er war nicht abgeschirmt, denn das hätte er gespürt und gewußt, wie er sich vorbeimogeln oder die Abschirmung durchbrechen könne, falls er genügend Zeit hatte und sie nicht zu stark war. Doch das jetzt war, als sei er von der Quelle abgeschnitten worden. Das Entsetzen ließ ihn auf der Stelle versteinern.
Anders jedoch Aran'gar. Vielleicht hatte sie die gleiche Entdeckung gemacht, aber sie reagierte auf andere Weise darauf. Kreischend wie eine Katze ging sie auf den Myrddraal los und krallte nach ihm.
Natürlich war die Attacke völlig wirkungslos. Der Myrddraal verlagerte noch nicht einmal das Gewicht.
Locker packte er sie am Hals und hob sie mit ausgestrecktem Arm hoch, bis ihre Füße über dem Boden baumelten. Aus dem Kreischen wurde Gurgeln, und sie packte den Unterarm des Halbmenschen mit beiden Händen. So baumelte sie in seinem Griff, während er den Blick Osan'gar zuwandte. »Ihr seid nicht von der Quelle abgeschnitten worden, aber Ihr werdet die Macht nicht benützen, bis man Euch die Erlaubnis erteilt. Und Ihr werdet mich niemals angreifen. Ich heiße Shaidar Haran.«