Wieder traten die Andoraner nervös von einem Fuß auf den anderen. Manche taten einen Schritt in Richtung Ausgang, hielten aber dann doch inne. Sie atmeten schwer, als wären sie meilenweit gerannt.
»Ihr könnt gehen«, sagte Rand zu ihnen.
»Was mich betrifft«, begann Lir, »werde ich Euch zur Seite stehen«, während im gleichen Moment Naean mit scharfer Stimme einwarf: »Ich werde nicht weglaufen vor...«
Rand unterbrach beide: »Geht!«
Sie wollten ihm beweisen, daß sie keine Angst hatten, auch wenn sie sich beinahe bepinkelten. Andererseits wollten sie weglaufen und alle Würde sausen lassen, soweit sie diese vor ihm nicht sowieso schon aufgegeben hatten. Es war eine einfache Wahl. Er war der Wiedergeborene Drache. Wollte man seine Gunst erhalten, mußte man gehorsam sein. Gehorsam bedeutete in diesem Falle, zu tun, was sie sowieso am liebsten getan hätten. So verbeugten sich die Männer weitschweifig, die Damen knicksten tief und spreizten dabei die Röcke, alles murmelte: »Mit Eurer Erlaubnis, mein Lord Drache« oder »Wie Ihr befehlt, mein Lord Drache«, und dann... Nun, sie rannten nicht gerade davon, gingen aber so schnell, wie sie es ohne den Anschein übermäßiger Eile fertigbrachten — in der entgegengesetzten Richtung. Zweifellos wollten sie kein zufälliges Zusammentreffen mit Mazrim Taim auf seinem Weg zu Rand riskieren.
Das Warten zog sich bei dieser Hitze hin, denn es brauchte seine Zeit, einen Mann vom Eingang des Palastes durch das Gewirr von Korridoren hierherzubringen, doch sobald die Andoraner weg waren, rührte sich niemand mehr. Bashere blickte stur zu dem Fleck hin, an dem Taim auftauchen würde. Die Töchter beobachteten alles, aber das taten sie immer, und auch wenn sie jetzt aussahen, als seien sie bereit, jeden Moment die Schleier wieder hochzureißen, dann war das nichts anderes als ihr Dauerzustand. Von ihren Augen abgesehen, hätten sie genausogut Statuen sein können.
Endlich warfen Stiefelschritte ihr Echo in den Hof. Rand hätte fast nach Saidin gegriffen, hielt sich dann aber doch zurück. Der Mann würde in der Lage sein, zu erkennen, daß er vom Glühen der Macht umgeben war, sobald er den Hof betrat Rand konnte sich nicht leisten, den Anschein zu erwecken, er fürchte ihn.
Tumad trat zuerst in den grellen Sonnenschein hinaus, und dann folgte ihm ein schwarzhaariger Mann von etwas überdurchschnittlicher Größe, dessen dunkler Teint und schrägstehende Augen, Hakennase und hohe Backenknochen seine Abstammung aus Saldaea deutlich machten, obwohl er keinen Bart trug und wie ein wohlhabender andoranischer Kaufmann gekleidet war, der nun möglicherweise schwere Zeiten erlebte.
Sein dunkelblauer Kurzmantel war aus Wolle bester Qualität gefertigt und mit noch dunklerem Samt besetzt aber die Manschetten wirkten abgewetzt, die Hosen beulten sich an den Knien aus und auf seinen rissigen Stiefeln lag eine Staubschicht. Trotzdem schritt er stolz einher, was nicht leichtfallen mochte mit vier von Basheres Männern hinter sich, die ihre geschweiften Klingen entblößt hatten und mit den Spitzen aus nächster Nähe auf seine Rippen zielten. Die Hitze schien ihn kaum zu berühren. Die Blicke der Töchter folgten ihm auf seinem Weg.
Rand musterte Taim, während der Mann mit seiner Eskorte den Hof überquerte. Er war mindestens fünfzehn Jahre älter als Rand — fünfunddreißig oder vielleicht ein paar Jahre mehr. Es war nur wenig bekannt und noch weniger schriftlich niedergelegt, was Männer mit der Fähigkeit, die Macht zu lenken, betraf, denn dieses Thema mieden anständige Leute für gewöhnlich. Aber Rand hatte in Erfahrung gebracht, was eben möglich gewesen war. Nur relativ wenige Menschen befaßten sich überhaupt mit dieser Thematik; das war eines von Rands Problemen. Seit der Zerstörung der Welt waren die meisten Männer dieser Art solche gewesen, denen diese Fähigkeit angeboren war und bei denen sie sich in der Pubertät langsam bemerkbar machte. Manche schafften es, jahrelang den Wahnsinn zu meiden, bis sie von Aes Sedai aufgespürt und einer Dämpfung unterzogen wurden. Andere waren bereits hoffnungslos wahnsinnig, wenn man sie fand, manchmal nur ein knappes Jahr, nachdem sie Saidin zum erstenmal berührt hatten. Rand hatte sich inzwischen schon seit zwei Jahren seine geistige Gesundheit bewahrt. Und vor sich hatte er nun einen Mann, der das zehn oder fünfzehn Jahre lang geschafft hatte. Das allein war schon etwas wert.
Sie blieben auf eine Geste Tumads ein paar Schritte vor ihm stehen. Rand öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, machte sich Lews Therin völlig verzweifelt in seinem Hirn bemerkbar. Sammael und Demandred haßten mich, ganz gleich, welche Ehren ich ihnen zuteil werden ließ. Je mehr Ehre, desto größer der Haß, bis sie ihre Seelen verkauften und überliefen. Besonders Demandred. Ich hätte ihn töten sollen! Ich hätte sie alle toten sollen! Die Erde verbrennen, um alle zu töten! Die Erde verbrennen!
Mit erstarrtem Gesicht kämpfte Rand um seinen Verstand. Ich bin Rand al'Thor. Rand al'Thor! Ich habe Sammael und Demandred oder die anderen niemals kennengelernt. Das Licht senge mich, ich bin Rand al'Thor! Wie ein schwaches Echo kam von irgendwoher ein weiterer Gedanke: Das Licht soll mich verbrennen. Es klang wie eine Bitte. Dann war Lews Therin weg, zurückgetrieben in die Schatten seiner armseligen Existenz.
Bashere ergriff in das Schweigen hinein die Initiative. »Ihr sagt, Ihr wärt Mazrim Taim?« Es klang zweifelnd, und Rand blickte ihn verwirrt an. War das nun Taim oder nicht? Nur ein Verrückter würde diesen Namen annehmen, wenn er nicht sein eigener war.
Der Mund des Gefangenen verzog sich ganz leicht zu etwas, was ein Anflug eines Lächelns sein mochte, und er rieb sich das Kinn. »Ich habe mich rasiert, Bashere.« In seiner Stimme lag mehr als nur eine Andeutung von Spott. »Es ist heiß, so weit unten im Süden, oder hattet Ihr das nicht bemerkt? Selbst hier ist es heißer, als es eigentlich sein sollte. Wollt Ihr einen Beweis, daß ich es bin? Soll ich für Euch die Macht benützen?« Der Blick aus seinen schwarzen Augen huschte zu Rand hinüber und dann zu Bashere zurück, dessen Gesicht mit jeder Minute dunkler anlief. »Vielleicht doch besser nicht, jedenfalls nicht jetzt. Ich erinnere mich an Euch. Ich hatte Euch bei Irinjavar geschlagen, bis diese Visionen am Himmel erschienen. Aber das weiß natürlich jeder. Was weiß nicht jeder, sondern ausschließlich Mazrim Taim und Ihr?« Er schien so auf Bashere konzentriert, daß er die Wachen und ihre Schwertspitzen, die noch immer fast seine Rippen berührten, gar nicht mehr bemerkte. »Wie ich hörte, habt Ihr nicht berichtet, was mit Musar und Hachari und ihren Frauen geschah.« Der Spott war verflogen, und nun berichtete er lediglich über tatsächlich Geschehenes. »Sie hätten nicht versuchen dürfen, mich unter einer weißen Waffenstillstandsflagge zu töten. Ich nehme an, Ihr habt gute Arbeitsplätze als Diener für sie gefunden? Alles, was sie jetzt noch tun wollen, ist zu dienen und zu gehorchen. Nichts anderes kann sie noch glücklich machen. Ich hätte sie töten können. Alle vier hatten die Dolche gezogen.«
»Taim«, grollte Bashere, wobei seine Hand an das Heft seines Schwertes fuhr, »Ihr...!«
Rand trat zwischen sie und packte ihn am Handgelenk. Die Klinge war erst halb aus der Scheide. Die Klingen der Wachen und auch Tumads berührten Taim nun. So, wie sie gegen seinen Mantel drückten, drangen sie wahrscheinlich bis auf die Haut durch, doch er zuckte nicht mit der Wimper. »Seid Ihr gekommen, um mich zu sehen, oder um Lord Bashere herauszufordern? Wenn Ihr das noch einmal versucht, lasse ich Euch durch ihn töten. Meine Amnestie betrifft das, was Ihr getan habt, aber sie schließt nicht ein, daß Ihr euch mit Euren Verbrechen brüstet.«