Damer war natürlich der erste, der die Töchter bemerkte, seinen Ast fallen ließ und die Aufmerksamkeit seiner Schüler auf Rand lenkte. Dann ließ Eben mit einem Schrei seinen Eimer fallen. Das Wasser spritzte ihn gründlich naß. Danach rannte alles schreiend zum Haus und drückte sich ängstlich hinter Damer herum. Von drinnen erschienen zwei weitere Frauen, mit Schürzen angetan und die Gesichter rot von der Hitze der Feuer in den Herden, und sie halfen den übrigen, die Kinder schnell hinter die Männer zu treiben.
»Da sind sie«, sagte Rand zu Taim. »Ihr habt noch fast den halben Tag. Wie viele könnt Ihr heute noch überprüfen? Ich will sobald wie möglich wissen, wer im Gebrauch der Macht ausgebildet werden kann.«
»Dieser Haufen stammt ja wohl aus dem Abschaum von...«, fing Taim verächtlich an, doch dann blieb er mitten auf dem Hühnerhof stehen und blickte Rand an. Hühner scharrten im Staub zu seinen Füßen. »Ihr habt keinen von denen überprüft? Warum, im Namen des...? Ihr könnt das nicht, oder? Ihr beherrscht das Schnelle Reisen, aber Ihr wißt nicht, wie man jemanden auf das Talent hin überprüft.«
»Manche wollen die Macht überhaupt nicht gebrauchen.« Rand lockerte den Griff am Heft seines Schwerts. Es paßte ihm überhaupt nicht, diesem Mann gegenüber Lücken in seinen Kenntnissen zuzugeben. »Manche haben nicht weiter darüber nachgedacht und sehen nur ihre Chance, Ruhm oder Reichtum oder Macht zu erwerben. Doch ich will jeden Mann behalten, der den Gebrauch der Macht erlernen kann, gleich aus welchen Motiven.«
Die Schüler — diejenigen, die das erlernen wollten —beobachteten ihn und Taim von ihrem Platz vor der Scheuer aus mit relativ gut gespielter Gelassenheit. Schließlich waren sie ja in der Hoffnung nach Caemlyn gekommen, vom Wiedergeborenen Drachen vieles lernen zu können. Zumindest glaubten sie das. Es waren aber vor allem die Töchter, die einen Ring um den Hof gebildet hatten und in Haus und Scheune herumstöberten, die sie mißtrauisch, aber fasziniert mit sogar bewundernden Blicken verfolgten. Die Frauen drückten die Kinder etwas enger an sich, die Blicke auf Taim und Rand gerichtet, und ihre Mienen zeigten alles, von ausdruckslos starren Augen bis hin zu nervösem Lippenkauen.
»Kommt weiter«, sagte Rand. »Es ist Zeit, daß Ihr eure Schüler kennenlernt.«
Taim zögerte noch. »Ist das wirklich alles, was Ihr von mir wollt? Soll ich lediglich versuchen, diesem armseligen Haufen etwas beizubringen? Falls überhaupt einer von ihnen lernfähig ist. Was erwartet Ihr wirklich —wie viele hofft Ihr in einer Handvoll zu finden, die sich zu Euch verirrt hat?«
»Das ist eine wichtige Aufgabe, Taim! Ich würde es selbst machen, wenn ich könnte und die nötige Zeit hätte.« Der Schlüssel zu allem lag in der Zeit. Immer zu wenig. Und nun hatte er das zugegeben, so sehr es ihm auch zuwider war. Es war ihm klar, daß er für Taim nicht viel übrig hatte, aber er mußte ihn ja nicht unbedingt sympathisch finden. Rand wartete nicht, und nach einigen Augenblicken holte ihn der andere mit langen Schritten ein. »Ihr habt das Wort Vertrauen gebraucht. Dies hier vertraue ich Euch an.« Vertraut ihm nicht! Lews Therin keuchte in den düsteren Winkeln seines Hirns. Vertraut niemals jemandem! Vertrauen ist Tod! »Überprüft sie und beginnt mit dem Unterricht, sobald Ihr wißt, wer lernfähig genug ist.«
»Wie der Lord Drache wünscht«, murmelte Taim trocken, als sie die Gruppe der Wartenden erreichten. Verbeugungen und Knickse, alles recht ungeübt, begrüßte sie.
»Das ist Mazrim Taim«, verkündete Rand. Kinnladen klappten herunter und Augen wurden aufgerissen —natürlich. Einige der jüngeren Männer starrten sie an, als erwarteten sie, er und Taim würden aufeinander losgehen. Ein paar schienen sich sogar auf den Kampf zu freuen. »Stellt Euch ihm vor. Von heute an wird er Euch unterrichten.« Taim verzog leicht den Mund, als er Rand noch einen Blick zuwarf, aber dann hatten sich die Schüler vor ihm versammelt und begannen mit ihrer Vorstellung.
Die Reaktionen der Männer waren natürlich sehr unterschiedlich. Fedwin schob sich ungeduldig nach vorn gleich neben Damer, während Eben mit bleichem Gesicht ganz hinten blieb. Die anderen befanden sich dazwischen, zögerten, wirkten unsicher, meldeten sich aber schließlich auch zu Wort. Rands Eröffnung bedeutete für einige von ihnen das Ende einer wochenlangen Warterei, für andere vielleicht das Ende jahrelang andauernder Träume. Heute begann die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit könnte sehr wohl einen Gebrauch der Macht mit sich bringen und alles, was dies für einen Mann bedeuten mochte.
Ein untersetzter Mann mit dunklen Augen, sechs oder sieben Jahre älter als Rand, beachtete Taim nicht weiter und sonderte sich von der Gruppe ab. Mit einer groben Bauernjoppe angetan trat Jur Grady nervös vor Rand von einem Fuß auf den anderen und drehte eine Stoffmütze in seinen grobschlächtigen Händen hin und her. Er blickte auf die Kappe hinab oder auf den Boden unter seinen Füßen, und nur gelegentlich wagte er, seinen Blick zu Rand zu erheben. »Ah ... mein Lord Drache, ich ... habe mir gedacht ... äh ... also, mein Vater schaut ja nach meinem Hof ... das ist ein schönes Stück Land, wenn der Bach nicht austrocknet ... es könnte sogar noch eine Ernte geben, falls es regnet, und ... und ...« Er zerknüllte die Kappe und glättete sie darauf wieder sorgfältig. »Ich habe daran gedacht, wieder zurück nach Hause zu gehen.«
Die Frauen hatten sich nicht den Männern um Taim angeschlossen. Sie standen schweigend und mit besorgten Blicken in einer Reihe, hielten ihre Kinder fest und beobachteten, was vorging. Die Jüngste, eine mollige Frau mit hellem Haar und einem etwa vierjährigen Jungen, der mit ihren Fingern spielte, war Sora Grady. Diese Frauen waren ihren Männern hierher gefolgt, aber Rand vermutete, daß es in der Hälfte aller Gespräche zwischen den Frauen und ihren Männern darum gehe, nach Hause zurückzukehren. Fünf Männer waren bereits weggegangen, und obwohl niemand als Grund seine Ehe angegeben hatte, waren sie eben doch alle verheiratet gewesen. Welche Frau konnte sich auch dabei wohl fühlen, wenn sie zusah, wie ihr Mann den Umgang mit der Macht erlernte? Das mußte etwa so sein, als beobachte man seine Vorbereitungen auf den Selbstmord. Einige würden meinen, dies sei einfach kein Aufenthaltsort für Familien, aber höchstwahrscheinlich würden die im gleichen Atemzug sagen, daß sich die Männer eigentlich genausowenig hier befinden sollten. Rands Meinung nach hatten die Aes Sedai den Fehler begangen, sich ganz von der übrigen Welt abzukapseln. Nur wenige außer eben Aes Sedai betraten die Weiße Burg: Frauen, die selbst Aes Sedai werden wollten, und diejenigen, die ihnen dienten. Nur eine Handvoll anderer kam, um Hilfe zu suchen, und auch das nur unter großem Druck, wie sie es empfanden. Wenn Aes Sedai die Burg verließen, dann hielten sie sich von anderen fern, kapselten sich ab, und manche verließen die Burg überhaupt nicht mehr. Für die Aes Sedai waren die Menschen bloße Spielfiguren und die ganze Welt ein Spielbrett, aber kein Ort, an dem man wirklich lebte. Für sie war nur die Weiße Burg real. Doch kein Mann konnte die Welt um sich herum und all die normalen Menschen vergessen, wenn er seine Familie bei sich hatte.
Das alles mußte ja nur bis Tarmon Gai'don so weitergehen — wie lange noch? Ein Jahr? Zwei? —, aber die Frage war, ob es überhaupt solange weitergehen konnte. Irgendwie würde es diese Zeit überdauern müssen. Er mußte dafür sorgen. Die Familien erinnerten die Männer immerzu daran, wofür sie eigentlich kämpften.