Soras Blick war auf Rand gerichtet. »Geht, wenn Ihr wollt«, sagte er zu Jur. »Ihr könnt zu jeder Zeit gehen, bevor Ihr mit dem eigentlichen Erlernen des Umgangs mit der Macht begonnen habt. Sobald Ihr allerdings diesen Schritt getan habt, seid Ihr wie ein Soldat. Ihr wißt, daß wir jeden Soldaten brauchen, den wir auftreiben können, bevor die Letzte Schlacht beginnt, Jur. Der Schatten verfügt dann über neue Schattenlords, die bereitstehen, für ihn die Macht zu lenken, darauf könnt Ihr wetten. Aber die Entscheidung liegt bei Euch. Vielleicht werdet Ihr das auf Eurem Hof überstehen. Es muß ja wohl ein paar Orte auf der Welt geben, die dem entgehen, was auf uns zukommt. Ich hoffe es jedenfalls. Natürlich werden wir anderen alles tun, was in unserer Macht steht, um sicherzustellen, daß soviel wie möglich unbeschadet davonkommt. Ihr könnt aber wenigstens Taim Euren Namen angeben. Es wäre schade, wenn Ihr uns verließet, ohne überhaupt zu wissen, ob Ihr den Gebrauch der Macht erlernen könnt oder nicht.« Er wandte sich von Jurs verwirrter Miene ab und mied den Blick in Soras Augen. Und du verurteilst die Aes Sedai, weil sie andere Menschen manipulieren, dachte er bitter. Er tat, was er tun mußte.
Taim ließ sich immer noch aus dem unruhigen Rudel heraus die Namen nennen und warf Rand gelegentlich einen nur mühsam unterdrückten Blick zu. Doch mit einemmal schien Taim mit seiner Geduld am Ende. »Genug jetzt; die Namen können auch später drankommen und dann nur bei denen, die sich auch morgen noch hier befinden werden. Wer macht den Anfang bei den Überprüfungen?« Das ließ sie augenblicklich verstummen. Einige wagten offensichtlich nicht einmal mehr einen Wimpernschlag, während sie ihn anblickten. Taim zeigte mit dem Finger auf Damer. »Ich kann genausogut mit Euch anfangen. Kommt her.« Damer rührte sich nicht, bis Taim ihn am Arm packte und ein paar Schritte weit von den anderen wegzerrte.
Rand trat näher heran und beobachtete Taim aufmerksam.
»Je mehr Macht man anwendet«, sagte Taim zu Damer, »desto leichter wird es, eine Resonanz festzustellen. Andererseits könnte eine zu starke Resonanz Eurem Verstand Schaden zufügen, Euch sogar vielleicht töten; also beginne ich ganz schwach.« Damer blinzelte. Offensichtlich hatte er kaum ein Wort verstanden, außer vielleicht jenen Teil über Schaden Zufügen und Töten. Rand allerdings wußte, daß die Erklärung für ihn bestimmt gewesen war. Taim deckte lediglich sein Unwissen den anderen gegenüber.
Plötzlich erschien eine winzige Flamme, nur zwei Fingerbreit hoch, die mitten in der Luft in gleichem Abstand zwischen den drei Männern tanzte. Rand spürte die Macht in Taim, wenn auch nur eine geringe Menge, und er sah den dünnen Strang aus Feuer, den der Mann webte. Die Flamme ließ überraschend deutliche Erleichterung in Rand aufsteigen, überraschend vor allem deshalb, weil sie der Beweis dafür war, daß Taim wirklich mit der Macht umzugehen in der Lage war. Basheres ursprüngliche Zweifel hatten ihm wohl noch im Hinterkopf gesteckt.
»Konzentriert Euch auf die Flamme«, sagte Taim. »Ihr seid die Flamme; die Welt ist in dieser Flamme; es gibt nichts außer dieser Flamme.«
»Ich spüre nichts, nur einen Schmerz, der von meinen Augen ausgeht«, murmelte Damer und wischte sich mit dem Rücken einer schwieligen, raunen Hand den Schweiß von der Stirn.
»Konzentriert Euch!« fuhr ihn Taim an. »Sprecht nicht, denkt nicht nach, bewegt Euch nicht. Konzentriert Euch.« Damer nickte, blickte unglücklich Taims zornig gerunzelte Stirn an und erstarrte. Dann sah er schweigend die kleine Flamme an.
Taim schien sich ebenfalls zu konzentrieren, wenn auch Rand nicht wußte, worauf. Es war, als lausche der Mann angestrengt. Er hatte von einer Resonanz gesprochen. Rand konzentrierte sich ebenfalls, lauschte und fühlte hinaus nach — irgend etwas Spürbarem.
Die Minuten dehnten sich, während keiner von ihnen sich rührte. Fünf, sechs, sieben endlose Minuten, und Damer wagte kaum, mit den Wimpern zu zucken. Der alte Mann atmete schwer, und er schwitzte, als habe jemand einen Eimer Wasser über seinen Kopf geleert. Zehn Minuten.
Doch dann spürte Rand etwas. Die Resonanz. Sie war nur ganz schwach spürbar, ein winziger Strang der Macht, der in Taim hochpulsierte, doch er schien von Damer auszugehen. Das mußte es sein, was Taim gemeint hatte, aber Taim selbst rührte sich nicht. Vielleicht mußte doch noch mehr kommen, oder aber es war doch nicht das, was Rand glaubte.
Ein oder zwei weitere Minuten vergingen, und dann schließlich nickte Taim und ließ Flamme und Saidin los. »Ihr könnt es erlernen ... Damer, so heißt Ihr doch?« Er schien überrascht. Zweifellos hatte er nicht erwartet, daß gleich der erste Mann seine Prüfung überstehen würde, und noch dazu ein beinahe glatzköpfiger alter Mann. Damer grinste schwach. Er machte den Eindruck, als müsse er sich übergeben. »Ich schätze, ich sollte mich nicht wundern, falls jeder dieser Einfaltspinsel die Prüfung besteht«, knurrte der Mann mit der Adlernase und blickte Rand dabei an. »Ihr scheint genug Glück für zehn Männer zu haben.«
Unruhiges Stiefelscharren machte sich unter dem Rest der ›Einfaltspinsel‹ breit. Bestimmt hofften ein paar bereits jetzt, sie würden nicht bestehen. Sie konnten nun keinen Rückzieher mehr machen, aber immerhin würden sie dann in dem Bewußtsein nach Hause zurückkehren, daß sie es versucht hatten und die Folgen, die ein Bestehen mit sich brachte, nicht mehr erdulden mußten.
Auch Rand war ein wenig überrascht. Es war schließlich nicht mehr als ein Echo gewesen, und er hatte es vor Taim wahrgenommen, dem Mann, der wußte, wonach er suchte.
»Mit der Zeit werden wir schon merken, wie stark Ihr eigentlich werden könnt«, sagte Taim, als Damer in die Gruppe der anderen zurückschlüpfte. Sie hielten aber nun ein wenig Abstand von ihm und mieden jeden Blick in seine Augen. »Vielleicht stellt Ihr euch als stark genug heraus, um sogar mir oder dem Lord Drache hier ebenbürtig zu werden.« Der freie Raum um Damer herum wurde schlagartig noch etwas breiter. »Das wird die Zeit erweisen. Paßt gut auf, während ich die anderen überprüfe. Wenn Ihr hellwach seid, bekommt Ihr möglicherweise den Trick heraus, sobald ich einmal vier oder fünf andere gefunden habe.« Ein schneller Blick in Rands Richtung sagte diesem, die Bemerkung sei nur ihn bestimmt gewesen. »Also, wer ist der nächste?« Keiner rührte sich. Der Mann aus Saldaea strich sich über das Kinn. »Ihr.« Er deutete auf einen molligen Burschen deutlich jenseits der Dreißig, einen dunkelhaarigen Weber namens Kely Huldin. In der Gruppe der Frauen stöhnte Kelys Ehefrau hörbar auf.
Sechsundzwanzig weitere Überprüfungen würden den ganzen Rest des Tageslichts über in Anspruch nehmen und vielleicht noch länger dauern. Heiß oder nicht, jedenfalls wurden die Tage immer noch kürzer, als nähere sich der Winter tatsächlich, und eine nicht bestandene Prüfung dauerte eindeutig ein paar Minuten länger als eine bestandene, denn man mußte ja sichergehen. In der Zwischenzeit wartete Bashere, und er mußte noch Weiramon besuchen, und dann...
»Macht Ihr nur damit weiter«, sagte Rand zu Taim. »Ich komme morgen wieder, um zu sehen, wie weit Ihr gekommen seid. Denkt daran, welches Vertrauen ich in Euch setze.« Vertrau ihm nicht! stöhnte Lews Therin.
Die Stimme schien von einer Gestalt herzurühren, die in den Schatten von Rands Verstand aufgeregt hin und her hüpfte. Vertraut niemandem. Vertrauen ist der Tod. Tötet ihn. Tötet sie alle. Ach, sterben und alles ist vorbei, schlafen ohne Alpträume, ohne diese Träume von Ilyena, vergib mir, Ilyena, keine Vergebung, nur der Tod verdiene es, endlich zu sterben... Rand wandte sich ab, bevor sich der Kampf in seinem Innern auf seiner Miene widerspiegeln konnte. »Morgen, wenn ich es schaffe.«
Taim holte ihn ein, bevor er noch mit den Töchtern den halben Weg zurück zum Wald geschafft hatte. »Wenn Ihr noch eine kleine Weile bleibt, lernt Ihr selbst, wie man diese Burschen auf das Talent hin überprüft.« Seine Stimme klang ein wenig frustriert. »Falls ich überhaupt noch vier oder fünf weitere finde. Es würde mich aber wirklich nicht überraschen. Ihr scheint tatsächlich das Glück des Dunklen Königs gepachtet zu haben. Ich schätze doch, daß Ihr es lernen wollt. Falls Ihr nicht alles auf meine Schultern abladen wollt. Ich warne Euch aber, denn ich werde Zeit benötigen. So sehr ich es auch vorantreibe: bei diesem Damer beispielsweise wird es Tage oder Wochen dauern, bis er überhaupt Saidin spüren wird, geschweige denn die Macht ergreifen kann. Und auch dann wird er sie zunächst nur ergreifen, aber noch nicht einmal selbständig einen Funken hervorbringen können.«