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»Einer der Verlorenen!« Das kam beinahe als Flüstern heraus. Zum zweitenmal wirkte Taim erschüttert. Diesmal war er wohl wirklich ins Mark getroffen worden. »Warum sollte...?«

»Wie stark seid Ihr?« unterbrach ihn Rand. »Ergreift Saidin. Jetzt auf der Stelle. Soviel Ihr nur halten könnt!« Einen Augenblick lang sah ihn Taim nur ausdruckslos an, und dann strömte die Macht in ihn ein. Es gab kein Glühen, so wie es die Frauen bei anderen sahen, die gerade die Macht in sich aufnahmen. Nur ungeheure Kraft und Bedrohung lagen darin. Rand spürte alles ganz deutlich und konnte es auch recht gut einschätzen. Taim hatte nun genug Saidin in sich, um den Bauernhof und alle, die sich hier aufhielten, innerhalb von Sekunden zu vernichten und auch noch alles auf Sichtweite zu verwüsten. Es war nicht viel weniger, als Rand ohne Hilfe bewältigen konnte. Andererseits konnte es sein, daß sich der Mann zurückhielt. Rand spürte nichts von Anstrengung, und möglicherweise wollte der Mann Rand nicht seine ganze Kraft vorführen. Wie konnte er auch ahnen, wie Rand darauf reagieren würde?

Saidin und das Gefühl, das es auslöste, verblaßten in Taim, und jetzt erst wurde Rand bewußt, daß er selbst von der männlichen Hälfte der Wahren Quelle erfüllt war, von einer rasenden Flut. Jedes bißchen, das er durch den Angreal in seiner Tasche an sich ziehen konnte, durchtobte ihn. Töte ihn, flüsterte Lews Therin. Töte ihn jetzt! Einen Augenblick lang packte Rand eisiger Schrecken. Die ihn umgebende Leere kam ins Wanken, Saidin tobte und schwoll an, und er war gerade noch in der Lage, die Macht loszulassen, bevor sie sowohl das Nichts wie auch ihn selbst verschlang. Hatte er nach der Quelle gegriffen oder Lews Therin? Töte ihn! Töte ihn!

In einem Wutausbruch schrie Rand in seinem Kopf: Halt den Mund! Zu seiner Überraschung verstummte die andere Stimme tatsächlich.

Schweiß rann ihm über das Gesicht, und er wischte ihn mit einer Hand weg, die ständig zu zittern versuchte. Er hatte selbst nach der Quelle gegriffen; es konnte gar nicht anders sein. Die Stimme eines toten Mannes brachte so etwas nicht fertig. Unbewußt hatte er Taim nicht getraut, wenn dieser eine solche Menge Saidins in sich aufnahm. Er hatte nicht hilflos danebenstehen wollen. So war es gewesen.

»Gebt nur auf jeden acht, der zu schnell lernt«, knurrte er. Vielleicht sagte er Taim gegenüber zuviel, aber die Menschen hatten ein Recht darauf, zu erfahren, was ihnen möglicherweise widerfahren könnte. Soweit sie das jedenfalls wissen mußten. Er wagte es nicht, Taim oder irgend jemand anderem zu gestatten, herauszufinden, wo er den größten Teil seines Wissens erworben hatte. Falls sie erfuhren, daß er einen der Verlorenen gefangengehalten und entkommen lassen hatte... Die Gerüchte würden schnell den Teil mit dem Gefangenen weglassen, falls alles herauskam. Die Weißmäntel behaupteten ohnehin, er sei ein falscher Drache und außerdem wahrscheinlich noch ein Schattenfreund. Das sagten sie allerdings von jedem, der die Eine Macht berührte. Sollte die Welt etwas von Asmodean erfahren, würden vielleicht eine Menge Leute dasselbe glauben. Dann spielte es keine Rolle, daß Rand jemanden gebraucht hatte, um ihm den Umgang mit Saldin richtig beizubringen. Keine Frau hätte das gekonnt, genausowenig, wie sie seine Stränge sehen konnten oder er ihre. Männer glauben bereitwillig immer das Schlimmste, und Frauen glauben, daß sich dahinter noch etwas Schlimmeres verberge, so sagte man von altersher an den Zwei Flüssen. Er würde selbst mit Asmodean fertigwerden, falls der Mann jemals wieder auftauchte. »Beobachtet sie nur alle recht gut. Und heimlich.«

»Wie mein Lord Drache befiehlt.« Der Mann verbeugte sich sogar leicht und ging dann zurück auf den Hof, wo seine Schüler warteten.

Rand bemerkte, daß die Töchter ihn anblickten. Enaila und Somara, Sulin und Jalani und all die anderen. In ihren Augen stand die Sorge um ihn. Sie akzeptierten ja fast alles, was er tat, alle jene Dinge, die ihn vor sich selbst zurückschrecken ließen, wenn er sie vollbrachte, alle jene Dinge, vor denen jeder bis auf die Aiel zurückschreckte, und was sie dann doch auf die Palme brachte, waren für gewöhnlich Anlässe, die er überhaupt nicht bemerkenswert fand. Sie akzeptierten ihn und machten sich Sorgen seinetwegen.

»Ihr sollt Euch nicht so ermüden«, sagte Somara ruhig. Rand sah sie an und die Wangen der Frau mit dem flachsblonden Haar röteten sich. Dies zählte sie vielleicht nicht als ›Öffentlichkeit‹, denn Taim war bereits zu weit entfernt, um lauschen zu können, aber die Bemerkung ging trotzdem etwas zu weit.

Und dann zog auch noch Enaila eine Reserveschufa hinter ihrem Gürtel hervor und reichte sie ihm. »Zuviel Sonne tut Euch nicht gut«, sagte sie leise.

Eine der anderen murmelte: »Er braucht eine Frau, die auf ihn aufpaßt« Er wußte nicht, wer das gesagt hatte; selbst Somara und Enaila wagten höchstens, solche Dinge hinter seinem Rücken auszusprechen. Er wußte aber sehr wohl, wer damit gemeint war: Aviendha.

Wer wäre besser geeignet, den Sohn einer Tochter des Speers zu heiraten, als gerade eine Tochter, die den Speer aufgegeben hatte, um eine Weise Frau zu werden?

Er unterdrückte seinen aufsteigenden Zorn, wickelte sich die Schufa um den Kopf und war ganz dankbar dafür. Die Sonne brannte wirklich heiß herab, und der graubraune Stoff hielt die Hitze überraschend gut ab. Sein Schweiß ließ die Schufa bereits nach kurzer Zeit an der Stirn kleben. Hatte Taim irgendeine Ahnung, wie beispielsweise die Aes Sedai es schafften, daß sie von Hitze oder Kälte kaum berührt wurden? Saldaea befand sich weit im Norden, und doch schien es, daß der Mann nicht einmal leicht schwitzte, so wie die Aiel. Trotz seiner Dankbarkeit sagte Rand lediglich: »Ich darf aber nicht einfach hier herumstehen und Zeit verschwenden.«

»Zeit verschwenden?« fragte die junge Jalani in viel zu unschuldigem Tonfall, wobei sie ihre Schufa frisch wickelte und dabei einen Augenblick lang kurz geschnittenes Haar enthüllt, das beinahe genauso rot war wie das Enailas. »Wie könnte denn der Car'a'carn Zeit verschwenden? Das letzte Mal, als ich so schwitzte wie er jetzt, war ich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gerannt.«

Grinsen und offenes Gelächter machten sich unter den anderen Töchtern breit. Die rothaarige Maira, mindestens zehn Jahre älter als Rand, klatschte sich auf die Schenkel, während die goldhaarige Desora ihr Lächeln hinter der vorgehaltenen Hand verbarg, wie sie es immer zu tun pflegte. Liah mit dem vernarbten Gesicht hüpfte auf Zehenspitzen auf und ab, und Sulin krümmte sich vor Lachen. Der Humor der Aiel war schon im günstigsten Fall eigenartig. Über die Helden der Legenden machte sich niemand jemals lustig, nicht einmal auf solch seltsame Weise, und man spielte ihnen keine Streiche. Mit Königen hielt man es wohl ebenso. Ein Teil des Problems lag natürlich darin, daß ein Aielhäuptling, selbst ein Car'a'carn, kein König war. Er mochte wohl in vielen Dingen die Autorität eines Königs besitzen, doch jeder Aiel durfte und würde auch an ihn herantreten und genau das aussprechen, was er dachte oder fühlte. Der größere Teil des Problems allerdings lag auf einem ganz anderen Gebiet begründet.

Obwohl er ja an den Zwei Flüssen von Tarn al'Thor und Tams Frau Kari — bis zu ihrem Tod, als er gerade fünf war —, aufgezogen worden war, war Rands wirkliche Mutter eine Tochter des Speers gewesen, die bei seiner Geburt am Hang des Drachenberges gestorben war. Allerdings war sie keine Aiel gewesen — nur sein Vater war einer —, doch trotzdem Tochter des Speers. Daher war er von Aielsitten berührt worden, die stärker waren als die Gesetze anderer. Nein, nicht berührt: erdrückt. Keine Tochter konnte heiraten und trotzdem den Speer behalten. Wenn sie also den Speer nicht aufgab, wurde jedes Kind, das sie gebar, von den Weisen Frauen einer anderen Frau zugeteilt, und zwar so geheim, daß die betreffende Tochter niemals erfuhr, wer diese Ersatzmutter war. Ein solches von einer Tochter geborene Kind galt als Zeichen des Glücks, als Glücksbringer, sowohl, was es selbst betraf, wie auch für diejenigen, die es großzogen. Und doch wußten nur die Frau, bei der es aufwuchs, und ihr Ehemann, daß es nicht ihr eigenes Kind war. Darüber hinaus sagten die Prophezeiungen von Rhuidean den Aiel, der Car'a'carn werde ein solches Kind sein, aber von Feuchtländern aufgezogen. Für die Töchter des Speers versinnbildlichte Rand all jene Kinder, und er war somit das erste Kind einer Tochter, das jeder als solches kannte.