Die meisten, ob sie nun älter als Sulin waren oder so jung wie Jalani, hießen ihn wie einen lange verschollenen Bruder willkommen. In der Öffentlichkeit gewährten sie ihm denselben Respekt wie jedem Häuptling, auch wenn das gelegentlich nur recht wenig war, doch wenn sie mit ihm allein waren, hätte er genausogut jener Bruder sein können. Das Alter der Frau schien nicht das Geringste damit zu tun zu haben, ob sie ihn nun als jüngeren oder älteren Bruder behandelten. Er war aber doch froh, daß sich nur eine Handvoll wie Enaila und Somara verhielten. Ob allein oder in der Öffentlichkeit machte es ihn gleichermaßen verrückt, wenn eine Frau, die nicht älter war als er selbst, sich benahm, als sei er ihr Sohn.
»Dann sollten wir uns irgendwohin begeben, wo ich nicht schwitze«, sagte er und brachte sogar ein Grinsen zustande. Er war es ihnen schuldig. Einige von ihnen waren bereits für ihn gestorben, und es würden noch viel mehr, bis alles vorbei war. Die Töchter unterdrückten ihre Heiterkeit schnell, immer bereit, zu gehen, wohin der Car'a'carn wünschte, immer bereit, ihn zu beschützen.
Die Frage war nur, wohin? Bashere wartete auf seinen so sorgfältig als bloße Höflichkeit getarnten Besuch, doch sollte Aviendha davon erfahren haben, würde sie sich möglicherweise bei Bashere befinden. Rand hatte sie soweit wie möglich gemieden, und vor allem wollte er nicht allein mit ihr sein. Denn er wünschte sich so sehr, allein mit ihr zu sein. Er hatte es bisher geschafft, diese Gefühle vor den Töchtern zu verbergen. Falls sie das jemals auch nur vermuteten, würden sie ihm das Leben zur Hölle machen. Es war eben so, daß er sich einfach von ihr fernhalten mußte. Er trug den Tod mit sich wie eine ansteckende Krankheit; er war das Ziel und die Menschen in seiner Nähe starben. Er mußte sein Herz verhärten und Töchter sterben lassen — das Licht sollte ihn für alle Ewigkeit für dieses unselige Versprechen bestrafen! —, doch Aviendha hatte den Speer aufgegeben, um sich von den Weisen Frauen ausbilden zu lassen. Er war sich nicht sicher, was er eigentlich für sie empfand, nur, wenn sie durch seine Schuld starb, würde auch etwas in ihm sterben. Es war gut, daß es für sie keine gefühlsmäßigen Verwirrungen gab, wo es ihn betraf. Sie bemühte sich lediglich, in seiner Nähe zu bleiben, weil die Weisen Frauen sie beauftragt hatten, ihn für sie zu beobachten, und weil sie ihn in Elaynes Namen bewachte. Keiner dieser beiden Gründe machte die Lage für Rand leichter zu ertragen; ganz im Gegenteil.
Die Entscheidung fiel ihm aber in diesem Falle wirklich leicht. Bashere würde warten müssen, damit er Aviendha meiden konnte, und der Besuch bei Weiramon, der im Palast seinen Anfang nehmen und nach Heimlichtuerei aussehen sollte, um die besondere Beachtung von wachsamen Augen zu finden, würde eben als nächstes kommen. Ein törichter Grund für eine solche Entscheidung, aber was konnte ein Mann schon tun, wenn eine Frau einfach nichts einsehen wollte? Auf diese Art würde vielleicht sogar etwas herauskommen. Diejenigen, die von diesem Besuch erfahren sollten, würden es auch so erfahren und möglicherweise umso eher glauben, was er sie glauben machen wollte, denn so sah es noch mehr nach echter Geheimhaltung aus. Vielleicht würde dann der Besuch bei Bashere und den anderen aus Saldaea noch unwichtiger wirken, weil er ihn auf später an diesem Tag hinausschob. Ja. Ränke innerhalb weiterer Ränke, die sogar der Adligen Cairhiens würdig wären, wenn sie das Spiel der Häuser spielten.
So ergriff er Saidin und öffnete ein Tor. Der Lichtstreifen verbreiterte sich und zeigte das Innere eines geräumigen, grüngestreiften Zeltes, leer bis auf eine dicke Schicht bunter Teppiche in der typischen Labyrinth Webart der Tairener. In diesem Zelt konnte man bestimmt keinen Hinterhalt legen, noch weniger als in der Gegend des Bauernhofs, aber trotzdem verschleierten sich Enaila und Maira und die anderen vorsichtshalber.
Dann huschten sie durch das Tor ins Zelt hinein. Rand blieb noch einen Moment stehen, um sich nach hinten umzublicken.
Kely Huldin ging mit gesenktem Kopf zum Wohnhaus zurück, während seine Frau die beiden Kinder neben ihm herführte. Sie faßte immer mal wieder zu ihm herüber und tätschelte ihn tröstend. Selbst auf diese Entfernung konnte Rand ihr strahlendes Gesicht deutlich erkennen. Offensichtlich war Kely durchgefallen. Taim stand vor Jur Grady, und beide starrten eine winzige Flamme an, die zwischen ihnen in der Luft flackerte. Sora Grady hatte ihren Sohn an die Brust gedrückt und die Augen von ihrem Mann abgewandt. Ihr Blick galt vielmehr immer noch Rand. »Die Augen einer Frau schneiden tiefer als ein Messer«, so lautete ein anderes Sprichwort an den Zwei Flüssen.
Er trat durch das Tor und wartete, bis der Rest der Töchter ihm gefolgt war. Dann ließ er die Quelle los. Er tat, was sein mußte.
4
Sinn für Humor
Das düstere Innere des Zeltes war so heiß, daß im Vergleich dazu Caemlyn, etwa achthundert Meilen nördlich gelegen, angenehm kühl erschien, und als Rand die Zeltklappe hob, mußte er blinzeln. Der Sonnenschein traf ihn wie ein Hammerschlag, so daß er froh war, die Schufa um den Kopf gewickelt zu haben. Eine Dublette der Drachenflagge hing über dem grüngestreiften Zelt neben einer der karmesinroten Flaggen mit dem uralten Kennzeichen der Aes Sedai. Zeltreihen erstreckten sich über eine wellige Ebene, auf der bis auf ein paar armselige Büschel alles Gras schon lange von Hufen und Stiefeln niedergetrampelt worden war. Manche Zelte hatte spitze Dächer, andere flache, die meisten waren weiß, wenn auch gelegentlich ziemlich schmutzig, aber einige wiesen doch bunte Farben oder Farbstreifen auf. Die Flaggen vieler Lords bildeten zusätzliche Farbtupfer. Ein Heer hatte sich hier an der Grenze nach Tear versammelt, am Rande der Ebenen von Maredo, Tausende und Abertausende von Soldaten aus Tear und Cairhien. Die Aiel hatten ihre eigenen Lager ein Stück von dem der Feuchtländer entfernt aufgeschlagen. Es kamen mindestens fünf Aiel auf jeden Soldaten aus Tear und Cairhien, und weitere kamen jeden Tag hinzu. Es war ein Heer, das Illian erzittern ließ, eine Heerschar, die bereits jetzt stark genug war, um alles auf ihrem Weg hinwegzufegen.
Enaila und der Rest der Vorhut befanden sich bereits draußen, allerdings unverschleiert und in Begleitung einiger Aielmänner. Die Aiel bewachten dieses Zelt rund um die Uhr. Sie waren wie die Töchter des Speers gekleidet und bewaffnet, aber hochgewachsen wie Rand oder sogar noch größer, Löwen, wo die Töchter wie Leopardinnen wirkten, sonnenverbrannte Männer mit harten Gesichtern und kalten blauen oder grünen oder grauen Augen. Heute waren Sha'mad Conde — Donnergänger — an der Reihe, von Roidan selbst angeführt der auf dieser Seite der Drachenmauer seine Kriegergemeinschaft befehligte. Die Töchter trugen die Ehre des Car'a'carn, doch jede Kriegergemeinschaft verlangte ihren Anteil an den Pflichten.
Etwas allerdings an der Kleidung der Männer unterschied sich von der der Töchter. Die Hälfte von ihnen hatte sich nämlich ein rotes Tuch um den Kopf gebunden, und so zeigten sie das uralte Sinnbild der Aes Sedai, die schwarz und weiß unterteilte Scheibe, auf der Stirn. Das war eine neue Sache, die erst vor ein paar Monaten aufgetaucht war. Die Träger dieses Stirnbandes nannten sich Isiswai'aman, und dieses Wort aus der Alten Sprache bedeutete soviel wie ›die Speere des Drachen‹. ›Speere im Besitz des Drachen‹ wäre allerdings ihrer Hingabe gerechter geworden.