Selbst sie stellten aber die offensichtliche Frage nicht, nämlich, ob Rand wünsche, daß man die Rebellen ausräucherte. Rand überraschte das nicht. Zum einen waren die Haddon-Sümpfe kein Ort, an dem man so einfach jemanden ausräucherte. Es war einziger, riesiger, verfilzter Wald ohne Dörfer, ohne Straßen, und nicht einmal Pfade gab es dort. In der zerklüfteten Bergregion an ihrer nördlichen Grenze mußte ein Mann schon Glück haben, wenn er an einem langen Tag des Wanderns gerade einmal eine Handvoll Meilen zurücklegen konnte, und Heere konnten in diesem Gebiet ungestört so lange umherziehen, bis der Proviant verbraucht war, ohne aufeinander zu stoßen. Und was vielleicht noch wichtiger war: Wenn sich jemand danach erkundigte, mußte man ja annehmen, er werde freiwillig die Führung einer solchen Expedition übernehmen, und bei einem Freiwilligen dieser Art lag der Verdacht nahe, daß er sich Darlin anschließen wolle, anstatt ihn am Schöpf zu packen und anzuschleppen. Die Tairener mochten ja Daes Dae'mar, das Spiel der Häuser, nicht spielen oder jedenfalls nicht so wie die Adligen Cairhiens — denn die lasen ganze Bände aus einem einzigen Blick und hörten mehr aus einem einzigen Satz heraus, als man selbst hineingelegt hatte —, doch auch sie intrigierten und beobachteten sich gegenseitig mißtrauisch, weil sie in allem Hinterlist vermuteten. Natürlich erwarteten sie, daß jeder andere genauso handelte.
Trotzdem kam es Rand gerade recht, wenn die Rebellen für den Augenblick dort blieben, wo sie waren. Er mußte Illian alle Aufmerksamkeit widmen, und vor allem mußte man sehen, daß all seine Aufmerksamkeit dorthin gerichtet war. Andererseits durfte er auch nicht als weich und nachgiebig gelten. Diese Männer würden sich wohl nicht gegen ihn wenden, aber ob Letzte Schlacht oder nicht, es gab nur zwei Dinge, die sowohl Tairener wie auch die Leute aus Cairhien davon abhielten, sich gegenseitig an die Kehlen zu gehen. Zum einen zogen sie die anderen immer noch den Aiel vor, wenn auch nur um ein Weniges, und zum anderen fürchteten sie den Zorn des Wiedergeborenen Drachen. Sollten sie ihn einmal nicht mehr fürchten, würden sie im Handumdrehen versuchen, sich gegenseitig umzubringen und die Aiel dazu.
»Will irgend jemand etwas zu ihrer Verteidigung sagen?« fragte er. »Kann jemand einen Grund vorbringen, der mich zur Milde veranlassen würde?« Sollte das der Fall sein, hielt der Betreffende jedenfalls den Mund. Wenn man die Diener mitzählte, waren fast zwei Dutzend Augenpaare erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Vielleicht waren es gerade die Diener, die ihn besonders eindringlich beobachteten. Sulin und die Töchter hingegen beobachteten alles bis auf ihn. »Ihre Titel sind ihnen aberkannt, ihre Ländereien und Güter werden konfisziert. Es werden Haftbefehle für jeden Mann ausgestellt, dessen Name bekannt ist. Und für jede Frau.« Das konnte zu einem Problem werden. In Tear stand als Strafe auf Rebellion der Tod. Er hatte einige Gesetze abgeändert, aber dieses nicht, und jetzt war es zu spät dafür. »Verkündet daß niemand, der einen von ihnen tötet, deshalb wegen Mordes bestraft werden kann, und daß jeder, der ihnen hilft, wegen Verrats angeklagt wird. Jeder, der sich ergibt, wird am Leben bleiben.« Das würde vielleicht dazu beitragen, das Problem Estanda zu lösen, denn er würde keine Frau zur Hinrichtung verurteilen, falls er einen Weg fand, sie zum Aufgeben zu bringen. »Aber jene, die mit der Rebellion fortfahren, werden gehängt.«
Die Adligen bewegten sich unruhig und tauschten Blicke, sowohl die Tairener wie auch die aus Cairhien. Mehr als ein Gesicht war blaß geworden. Sie hatten wohl ganz sicher ein Todesurteil erwartet, denn das stand nun einmal auf Rebellion, und auch noch während eines Krieges, doch die Aberkennung der Titel erschreckte sie zutiefst. Trotz all der Gesetze, die Rand in beiden Ländern abgeändert hatte, obwohl er Lords vor den Magistrat schleppen und wegen Mordes hatte hängen lassen oder andere wegen Körperverletzung zu Geldstrafen verurteilen ließ, glaubten sie immer noch, es gebe einen Unterschied zwischen den Menschen, eine Abstammung, fast schon ein Naturgesetz, das aus ihnen Löwen machte und aus den einfachen Menschen Schafe. Ein Hochlord, der auf das Schaffott wanderte, starb dort als Hochlord, doch Darlin und die anderen würden wie Bauern sterben, und das war in den Augen dieser Männer eine schlimmere Strafe als der Tod selbst. Die Diener blieben mit ihren Krügen in Stellung und warteten darauf, jeden Pokal aufzufüllen, der bis zur Neige ausgetrunken schien. Obwohl ihre Mienen genauso ausdruckslos waren wie zuvor, schien doch in einigen Augen etwas Frohes zu glitzern, das vorher nicht zu sehen gewesen war.
»Nun, da dies geregelt ist«, sagte Rand und zog sich die Schufa vom Kopf, während er an den Tisch trat, »wollen wir uns die Landkarten ansehen. Sammael ist wichtiger als eine Handvoll Narren, die in den Haddon-Sümpfen verkommen.« Er hoffte, sie würden dort verkommen. Verfluchte Idioten!
Weiramons Mundpartie spannte sich an, und Tolmeran glättete ganz schnell seine Züge. Sunamons Gesicht war so nichtssagend, daß es auch eine Maske hätte sein können. Die anderen Tairener blickten zweifelnd drein, genau wie die Adligen aus Cairhien; nur Semaradrid verbarg seine Gefühle recht gut. Manche hatten während des Angriffs auf den Stein Myrddraal und Trollocs erlebt, und ein paar waren bei seinem Zweikampf mit Sammael in Cairhien zugegen gewesen, und doch glaubten sie, seine Behauptung, die Verlorenen seien in Freiheit, sei ein Symptom seines nahenden Wahnsinns. Er hatte gehört, wie hinter vorgehaltener Hand geflüstert worden war, er selbst habe die ganzen Zerstörungen in Cairhien hervorgerufen, weil er wie ein Verrückter auf Freund und Feind gleichermaßen eingeprügelt habe. Nach Liahs steinernem Gesicht zu schließen, würde sehr bald einer von ihnen den Speer einer Tochter in den Bauch bekommen, falls sie ihre Blicke nicht besser beherrschten.
Sie versammelten sich dann doch um den Tisch, als er die Schufa wegwarf und in den Schichten verstreut herumliegender Landkarten stöberte. Bashere hatte recht; die Menschen folgten auch einem Verrückten, wenn er siegte. Solange er siegte. Gerade in dem Moment, als er die Karte fand, die er gesucht hatte — eine äußerst detaillierte Darstellung des östlichen Grenzgebietes von Illian —, kamen die Aielhäuptlinge herein.
Bruan von den Nakai Aiel war der erste, der eintrat. Ihm folgten Jheran von den Shaarad, Dhearic von den Reyn, Han von den Tomanelle und Erim von den Chareen. Jeder erwiderte das begrüßende Nicken Sulins und der drei anderen Töchter. Bruan, ein massig wirkender Mann mit traurig dreinblickenden grauen Augen, war der Anführer der fünf Clans, die Rand bisher nach Süden gesandt hatte. Keiner der anderen hatte etwas dagegen. Bruans auf so eigenartige Weise ruhiges, entspanntes Verhalten täuschte leicht über sein Können als Krieger hinweg. Sie waren alle mit dem Cadin'sor angetan, hatten die Schufa lose um den Hals gehängt und waren bis auf die schweren Messer an den Gürteln unbewaffnet. Allerdings konnte man einen Aiel kaum jemals als unbewaffnet betrachten, wenn er wenigstens noch seine Hände und Füße besaß.
Die Männer aus Cairhien gaben einfach vor, die Aiel nicht zu sehen, während die Tairener betont abfällig grinsten und betont an ihren Pomadetiegeln und parfümierten Taschentüchern schnüffelten, Tear hatte lediglich den Stein an die Aiel verloren, und das mit Hilfe des Wiedergeborenen Drachen, wie sie glaubten, oder vielleicht auch mit Hilfe von Aes Sedai, während Cairhien zweimal von ihnen verheert worden war, zweimal besiegt und gedemütigt.
Mit Ausnahme Hans ignorierten die Aiel alle Anwesenden bis auf Rand. Han, weißhaarig und mit einer Gesichtshaut wie aus rissigem Leder, funkelte sie dagegen zornglühend an. Selbst bei bester Laune war er ein jähzorniger Mann, und es wirkte sich auch nicht gerade beruhigend auf ihn aus, daß ein paar der Tairener genauso groß waren wie er. Han war nämlich für einen Aiel ziemlich klein, wenn auch noch überdurchschnittlich groß im Vergleich zu den Feuchtländern, und deshalb genauso empfindlich wie Enaila. Und dann natürlich verachteten die Aiel sowieso alle ›Baummörder‹, wie sie die Menschen aus Cairhien nannten, noch mehr als die übrigen Feuchtländer. Ihre andere Bezeichnung für sie lautete ›Meineidige‹.