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»Die Illianer«, sagte Rand energisch und glättete die Karte mit der Hand. Er benützte das Drachenszepter, um die eine Seite der Karte, die sich immer wieder aufrollen wollte, festzuhalten, und ein goldbeschlagenes Tintenfaß mit dazupassender Sandbüchse für die andere Seite. Er wollte nicht, daß diese Männer begannen, sich gegenseitig umzubringen. Er glaubte allerdings nicht ernsthaft, daß es dazu käme, oder zumindest nicht, während er sich hier befand. In den Sagen lernten Verbündete immer, sich gegenseitig sympathisch zu finden und zu vertrauen, doch er zweifelte sehr, daß sich diese Männer hier jemals dazu durchringen könnten.

Die welligen Ebenen von Maredo erstreckten sich beachtlich weit nach Illian hinein und gingen ein Stück vor dem Manetherendrelle und dem einmündenden Skal in bewaldete Hügel über. Fünf eingezeichnete Kreuze, etwa zehn Meilen voneinander entfernt, bezeichneten den östlichen Rand des Hügelgebiets: die Doirlon-Berge.

Rand berührte mit dem Zeigefinger das mittlere Kreuz. »Seid Ihr sicher, daß Sammael keine neuen Lager dort angelegt hat?« Als Weiramon das Gesicht leicht verzog, fauchte Rand gereizt: »Lord Brend, falls Ihr den bevorzugt, oder der Rat der Neun, oder Mattin Stepaneos den Baigar, falls Ihr lieber hättet, daß der König selbst solche Anordnungen erläßt. Liegen die Lager noch genauso?«

»Unsere Kundschafter behaupten es jedenfalls«, sagte Jheran gelassen. Schlank auf die gleiche Art wie eine Schwertklinge, das hellbraune Haar mit grauen Strähnen durchsetzt, bewahrte er jetzt immer Ruhe und Gelassenheit, nachdem Rand die vierhundert Jahre andauernde Blutfehde der Shaarad mit den Goshien Aiel durch seine Ankunft beendet hatte. »Sovin Nai und Duadhe Mahdi'in beobachten sie genau.« Er nickte leicht und zufrieden, genau wie Dhearic, als er das verkündete. Jheran war ein Sovin Nai, eine ›Messerhand‹ gewesen, bevor er Häuptling wurde, und Dhearic hatte zu den Duadhe Mahdi'in gehört, den ›Wassersuchern‹.

»Wir erfahren durch unsere Läufer innerhalb von fünf Tagen von jeder Veränderung.«

»Meine Kundschafter glauben, es gebe neue Lager«, sagte Weiramon, als habe Jheran nichts gesagt. »Ich schicke jede Woche einen neuen Trupp los. Sie brauchen wohl einen ganzen Monat, um hinzureiten und wieder zurückzukehren, aber ich versichere Euch, ich bin auf dem neuesten Stand, soweit es die Entfernung gestattet.«

Die Gesichter der Aiel wirkten, als habe man sie aus Stein gemeißelt.

Rand beachtete das Zwischenspiel nicht. Er hatte sich vorher bereits bemüht, die Differenzen zwischen den Tairenern, den Aiel und Cairhien zu überbrücken, aber sobald er ihnen den Rücken kehrte, war der alte Zustand wieder da. Die Mühe war umsonst.

Was die Lager betraf... Er wußte, daß es immer noch fünf waren. Auf gewisse Weise hatte er sie besucht. Es gab einen ... Ort ... von dem er wußte, wie er ihn erreichen konnte, eine seltsame, unbevölkerte Spiegelung der wirklichen Welt, und dort war er über die Wehrgänge der Holzpalisaden dieser massiven Bergfestungen geschritten. Er kannte die Antworten auf beinahe alle Fragen, die er ihnen stellen wollte, doch er jonglierte Pläne innerhalb anderer Pläne wie ein Gaukler die Feuerstäbe. »Und Sammael führt immer noch mehr Soldaten heran?« Diesmal betonte er den Namen besonders. Die Mienen der Aiel veränderten sich nicht. Falls die Verlorenen frei waren, dann waren sie eben frei. Man mußte die Welt sehen, wie sie war, und nicht, wie man sie zu sehen wünschte. Aber die anderen warfen ihm kurze, besorgte Seitenblicke zu. Sie würden sich früher oder später daran gewöhnen müssen. Sie würden es über kurz oder lang glauben müssen.

»Jeder Mann aus Illian, der einen Speer halten kann, ohne darüber zu stolpern, wie es scheint«, sagte Tolmeran mit niedergeschlagenem Gesichtsausdruck. Er war genauso heiß darauf, gegen die Illianer zu kämpfen wie jeder Tairener. Die beiden Länder hatten sich gegenseitig gehaßt, seit sie aus den Überresten von Artur Falkenflügels Weltreich hervorgegangen waren, und ihre Geschichte war eine Chronik ständiger Kriege, die man auf Grund jeder überhaupt möglichen Ausrede ausgefochten hatte. Doch Tolmeran schien ein wenig realistischer zu denken als die anderen Hochlords und nicht zu erwarten, daß man jede Schlacht mit einem einzigen wuchtigen Schlag gewinnen könne. »Jeder Kundschafter, der es hierher zurück schafft, berichtet, daß diese Festungen immer größer werden und immer mächtigere Verteidigungsanlagen erhalten.«

»Wir sollten jetzt losschlagen, mein Lord Drache«, sagte Weiramon ganz energisch. »Das Licht soll meine Seele versengen, aber ich kann die Illianer jetzt noch mit heruntergelassenen Hosen erwischen. Sie haben sich selbst unbeweglich gemacht. Sie haben doch tatsächlich kaum eine nennenswerte Kavallerie! Ich werde sie zu Staub zermalmen, und dann ist der Weg zur Stadt frei.« In Illian, genau wie in Tear und Cairhien, meinte man mit der ›Stadt‹ die große Stadt, die dem Land den Namen verliehen hatte. »Seng meine Augen, ich werde Eure Flagge in einem Monat über Illian flattern lassen, mein Lord Drache. Oder höchstens in zwei.« Er blickte zu den Männern aus Cairhien hinüber und fügte so zögernd hinzu, als müsse man ihm jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen: »Semaradrid und ich schaffen das gemeinsam.« Semaradrid verbeugte sich leicht. Oder deutete es zumindest an.

»Nein«, sagte Rand kurz angebunden. Weiramons Plan lud geradezu zu einer Katastrophe ein. Gute zweihundertfünfzig Meilen lagen zwischen ihrem Lager und Sammaels großen Bergfestungen, und dazwischen befand sich eine grasbewachsene Ebene, wo eine Erhebung von fünfzig Fuß bereits als hoher Hügel galt und ein Dickicht von ein paar hundert Schritt Breite als Wald bezeichnet wurde. Auch Sammael besaß Kundschafter — jede Ratte, jeder Rabe konnte einer von Sammaels Spähern sein. Zweihundertfünfzig Meilen. Zwölf oder dreizehn Tage für die Tairener und die Soldaten Cairhiens, wenn sie Glück hatten. Die Aiel konnten es vielleicht bei größter Eile in fünf Tagen schaffen — ein einzelner Kundschafter oder zwei kam eben schneller vorwärts als ein Heer, sogar bei den Aiel —, aber die gehörten nicht zu Weiramons Plan. Lange bevor Weiramon überhaupt die Doirlon-Berge erreichte, wäre Sammael in der Lage, die Tairener zu vernichten, und nicht andersherum. Ein törichter Plan. Noch törichter sogar als der, den Rand ihnen vorgegeben hatte. »Ich habe Euch Befehle erteilt. Ihr haltet hier die Stellung, bis Mat ankommt und das Kommando übernimmt, und selbst dann rührt keiner einen Fuß von der Stelle, bis ich der Meinung bin, genügend Soldaten hier zu haben. Weitere Truppen sind hierher unterwegs: aus Tear, Cairhien, und auch Aiel. Ich habe vor, Sammael vernichtend zu schlagen, Weiramon. Ihn endgültig zu schlagen und Illian unter das Drachenbanner zu bringen.« Soweit entsprach das durchaus der Wahrheit. »Ich wünschte ja, ich könnte bei Euch bleiben, aber noch benötigt man meine ganze Aufmerksamkeit in Andor.« Weiramons Gesicht wandelte sich zu saurem Stein, soweit man sich so etwas vorstellen kann, und Semaradrids Grimasse hätte eigentlich den Wein augenblicklich in Essig verwandeln sollen, während Tolmerans Miene derart ausdruckslos war, daß seine Mißbilligung wie ein Faustschlag wirkte. In Semaradris Fall war es die Verzögerung, die Anlaß zur Besorgnis gab. Er hatte schon mehr als einmal darauf hingewiesen, daß jeder Tag wohl mehr Soldaten hier ins Lager brächte, aber auch mehr Soldaten zu den Festungen in Illian. Zweifellos war Weiramons Plan das Resultat seiner Mahnungen zur Eile, obwohl er selbst wohl einen besseren Plan entwerfen gekonnt hätte. Tolmerans Zweifel lagen in Mat begründet. Tolmeran hatte wohl von den Leuten aus Cairhien einiges über Mats Kriegskunst erfahren, doch er hielt das für bloße Schmeichelei von einigen Narren für einen Landedelmann, der eben zufällig mit dem Wiedergeborenen Drachen befreundet war. Das waren aber ehrliche Einwände, und der Semaradrids hätte sogar eine gewisse Berechtigung gehabt, wenn der an sie ausgegebene Plan mehr gewesen wäre als lediglich ein Täuschungsmanöver. Es war unwahrscheinlich, daß sich Sammael ausschließlich auf seine Ratten und Raben verließ, wenn es um das Spionieren ging. Rand rechnete damit, daß sich im Lager auch Spione der anderen Verlorenen aufhielten und wahrscheinlich auch Spione der Aes Sedai.