Tucker beklagte sich bitterlich. Murphy warf dem Hund ein hartgewordenes Bröckchen Glasur vom Tisch herunter, damit er Ruhe gab. Wenn Tucker weiter solchen Krach machte, bemerkten die Menschen womöglich, daß sie sich unaufgefordert bedienten.
»Sie haben so viele Fragen gestellt, daß mir schwindlig wurde.« Die junge Frau schlug die Hände vors Gesicht. »Ich konnte kaum die Hälfte beantworten. Ich war keine große Hilfe. Chark haben sie auch ganz schön ausgequetscht.«
»Rick Shaw hat gesagt, Frank Yancey ist in Ordnung, also nehme ich an, er hat nur gefragt, was notwendig war.« Harry wollte gern behilflich sein, wußte aber nicht, was sie tun oder sagen sollte.
Addies große blaue Augen verschleierten sich. »Ich fing gerade an, ihn besser kennenzu - «
»Natürlich, natürlich.« Diesmal tätschelte Miranda ihre Hand.
»Wie lange kannten Sie ihn schon?«
»Zwei Monate, rund. Ich habe ihn beim Fair-Hill-Rennen kennengelernt, und rrumms!« Sie schlug die Hände zusammen.
Harry lächelte. »So geht es manchmal.«
»Wir hatten soviel gemeinsam. Pferde. Pferde und Pferde«, sagte Addie. »Er hat mir viel beigebracht. Ihr wißt doch, wie das ist, manche Leute behalten ihr Wissen für sich. Sie wollen andere nicht teilhaben lassen. Nigel war anders. Er hat mir gern alles gezeigt und hat genauso gern von mir gelernt.«
»Hört sich nach einem reizenden jungen Mann an«, erwiderte Miranda, die ewige Romantikerin, sanft.
Harry, weit weniger romantisch veranlagt, wollte trotzdem Trost spenden, doch ihre neugierige Natur ließ sich nicht lange unterdrücken. »Glaubst du, daß er Feinde hatte?« »Harry, du klingst wie Frank Yancey.« Addie schlug die Beine übereinander und zuckte zusammen.
»Was haben Sie?« erkundigte sich Miranda besorgt.
»Die Knie. Die werden ziemlich in Mitleidenschaft gezogen, wissen Sie.« Sie wandte sich wieder an Harry. »Soviel ich weiß, hatte er keine Feinde. Niemand kannte ihn lange genug, und außerdem hat er immer für Stimmung gesorgt, ein echt positiver Mensch.« Sie hielt inne. »Aber Feinde hat eigentlich jeder.«
»Seine armen Eltern in England.« Miranda schüttelte den Kopf.
»Daran habe ich gar nicht gedacht«, sagte Harry. »Hast du eine Ahnung, warum das passiert ist?« Ihre Neugierde ließ sich nicht mehr bremsen.
»Nein.« Addie stand auf. »Das fragen mich alle.«
»Tut mir leid. Aber es ist ganz natürlich.«
»Ich hoffe, wer auch immer ihn ermordet hat, schmort in der Hölle!« brauste Addie auf, dann wischte sie die unvermuteten Tränen fort.
»>Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht<«, zitierte Mrs. Hogendobber aus dem Ersten Buch Mose.
»Ich werde mit Freuden Blut vergießen.« Addie preßte die Lippen zusammen.
»Wie meinst du das?« fragte Harry.
»Ich meine, wenn ich den Mörder als erste finde.«
»So etwas sagt man nicht«, platzte Miranda heraus.
»Ja, so etwas sagt man nicht«, unterstützte Harry ihre ältere Freundin.
»Ist mir doch egal. Wenn der Mörder geschnappt wird, kommt er vor Gericht. Es wird eine Menge Geld ausgegeben, und das System ist so korrupt, daß er vermutlich nicht verurteilt wird, und wenn, wird er im Nu unter Auflagen entlassen. Das ist eine Farce.«
Sosehr Harry geneigt war, ihr zuzustimmen, sie wollte Addie nicht zum Mord ermuntern. »Weißt du, das Beängstigende dabei ist, was, wenn du den Mörder findest oder nahe dran bist? Was, wenn er auf dich losgeht, Addie? Halt dich da raus. Du hattest den Mann gern, aber du kanntest ihn nicht gut genug, um für ihn zu sterben.«
»Harry, man kann sich von einem Augenblick zum anderen verlieben. Bei mir war es so.«
»Oh, Addie.« Harrys Stimme verlor sich.
Miranda legte den Arm um Addies schmale Schulter. »Harry möchte nicht mit Ihnen streiten oder Sie verärgern, meine Liebe. Sie möchte nur nicht, daß Sie im Affekt etwas tun, das Ihr Leben ruinieren könnte. Und ich stimme ihr zu. Keine von uns möchte, daß Sie sich der Gefahr aussetzen. Schließlich weiß niemand, warum Nigel getötet wurde. Wissen Sie, es ist nicht nur das Wer, es ist das Warum. Da liegt die Gefahr.«
Addie weinte wieder. »Sie haben recht. Ich weiß, daß Sie recht haben.«
Beide Frauen trösteten sie, so gut sie konnten. Als Addie das Postamt verließ, kam sie an dem inzwischen leeren weißen Teller vorbei. Die Katzen waren neben dem Schauplatz ihres Verbrechens eingeschlafen.
10
Die Arbeit ging weiter, trotz des Kummers, mit dem Adelia Valiant zu kämpfen hatte. Die Pferde mußten gefüttert, abgespritzt, trainiert, gestriegelt, nach draußen gebracht werden und über eine Boxentür hinweg Zuspruch erhalten. Diese seltsam tröstende Routine betäubte Addies Gedanken. Mim sagte, sie solle sich frei nehmen, wenn sie es nötig hätte, doch Addie ritt weiter. Schließlich hatten sie und ihr Bruder noch andere Kunden, und wer zahlt, erwartet Resultate.
Das Vermögen der Valiants, gut achtzehn Millionen schwer, das noch zunahm durch kluge Investitionen, die von Arthur Tetrick getätigt wurden, hätte gewährleisten können, daß Adelia und Charles für ihr täglich Brot nicht zu arbeiten brauchten.
Doch Marylou hatte gesehen, welch unheilvolle Wirkung es haben konnte, wenn Kinder mit Massen von Geld gepolstert wurden, um die harten Schläge des Lebens abzufangen. Sie wollte nicht, daß ihre Kinder solch schwache, engstirnige Tyrannen wurden, wie sie sie oft beobachtet hatte. Sie wollte ihnen Mumm mitgeben.
Dem Treuhandvermögen wurde jährlich genug entnommen, um davon Unterkunft, Autos, Kleider, Dinge des täglichen Bedarfs zu bestreiten. Damit waren ihre Kinder gezwungen zu arbeiten, wenn sie mehr wollten. Wenn sie sich nach Adelias Volljährigkeit in vornehme Müßiggänger verwandelten, sei's drum.
Aber die Geschwister mochten ihre Arbeit. Bei keinem von ihnen bestand ein Zweifel, daß sie weiterarbeiten würden, nachdem sie ihr Erbe angetreten hatten. Sie würden sich vielleicht einen eigenen soliden Stall aufbauen, doch sie wollten weiterhin trainieren und reiten.
Addies vergangene Drogenprobleme hatten mehr mit ihrer Persönlichkeit, als mit ihrer Herkunft zu tun. Auch viele arme Jugendliche richteten sich mit Drogen zugrunde. Und viele arme Jugendliche gaben ihr Geld aus, sobald sie ihren Lohn erhielten. Addies Impulsivität und ihr Hang zu Ausschweifungen hatten nichts mit gesellschaftlichem Rang zu tun.
Addie rieb gerade das letzte Pferd für den Tag ab, einen langbeinigen Grauen, als der weiße Lieferwagen der Firma Southern States durch die Zufahrt gefahren kam.
»Der Futtermann.«
Chark rief vom anderen Ende des Stalles: »Ich kümmere mich darum. Mach du deine Sachen fertig.«
Als Addie die Beine des Grauen mit Blue Lotion abrieb, hörte sie die Metalltür des Lieferwagens aufklappen und den Rollwagen auf den Boden aufplumpsen, dann hörte sie das Stöhnen ihres Bruders und des Lieferanten, als sie Halbzentnersäcke Frischfotter mit 14 Prozent Proteingehalt auf den Rollwagen luden.
Nachdem sie die verzinkten Futtereimer gefüllt hatten - Mim dachte in ihrem Stall an alles, trotzdem fielen die Mäuse ein -, murmelte der Lieferant etwas zu Chark, dann fuhr er davon.
Als ihr Bruder, ein mittelgroßer, wohlproportionierter Mann, zu ihr schlenderte, fragte Addie: »Sind wir mit der Rechnung im Rückstand?«
»Alles bezahlt«, er lächelte, »ausnahmsweise.«
»Was wollte er dann?«
»Nichts. Er sagte, es tut ihm leid, was er von deinem Freund gehört hat.«
Die Linien um ihren Mund entspannten sich. »Das war lieb von ihm. Die Leute überraschen mich.«
»Ja.« Chark schob die Hände in seine Jeans. »Schwesterherz, tut mir leid, daß du leidest, falls du verstehst, was ich meine, aber ich konnte Nigel nicht ausstehen, und das weißt du, deshalb kann ich jetzt nicht heucheln. Nicht, daß ich ihm den Tod gewünscht habe.«