Sie besaß etwas, was sie nicht hatten: Zeit. Natürlich besaßen sie etwas, was sie nicht hatte: Geld. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie man beides haben konnte.
Doch, Marilyn>Mim< Sanburne hatte beides, aber sie hatte soviel Geld geerbt, daß sie mehr besaß als Gott. Man mußte Mim zugute halten, daß sie klug damit umging, oft, um anderen zu helfen, doch um in den Genuß ihrer Großzügigkeit zu gelangen, mußte man ihre Überheblichkeit ertragen. Little Marilyn, in Harrys Alter, die im Schatten ihrer Mutter glimmte, hatte genug von guten Werken. Eine glühende Romanze würde Vorrang vor guten Taten haben, doch Little Mim, seit einiger Zeit geschieden, konnte den Richtigen nicht finden, oder vielmehr, ihre Mutter konnte den Richtigen nicht finden.
Harrys Lippen kräuselten sich. Sie hatte den Richtigen gefunden, der sich in den Falschen verwandelt hatte und nun wieder der Richtige werden wollte. Sie hatte Fair gern, wußte aber nicht, ob sie ihn jemals wieder würde lieben können.
Ein Donnern verkündete ihr, daß der Bledsoe-Butler Cup - 1600 Meter auf dem Gelände, 1000 Dollar für den Sieger - begonnen hatte. Sosehr sie versucht war, zur Geländestrecke zu laufen und zuzuschauen, wußte sie doch, daß sie an Ort und Stelle bleiben mußte.
»Tucker, ich hab mit offenen Augen geträumt, von der Ehe, von Männern« - sie seufzte -, »von Exgatten. Die Zeit ist mit mir davon galoppiert.«
Tucker spitzte die großen Ohren.»Fair liebt dich immer noch. Du könntest ihn noch mal ganz von vorne heiraten.«
Harry sah in die hellbraunen Augen. »Manchmal kommst du mir fast menschlich vor - als würdest du genau verstehen, was ich sage.«
»Manchmal kommst du mir fast hündisch vor.« Tucker erwiderte ihren Blick. »Aber du hast keinen Riecher, Harry.«
Harry lachte. »Bellst du mich an?«
»Ich sage dir, hör auf, so mit dem Kopf zu leben, das sage ich, jawohl. Warum du denkst, ich belle, ist mir unbegreiflich. Ich verstehe, was du sagst.«
Harry umarmte den stämmigen Hund und küßte das weiche Fell auf seinem Kopf. »Du bist wirklich ein ganz, ganz lieber Hund.«
Sie hörte den Rennbahnsprecher die Jockeys für das zweite Rennen aufrufen, die erste Abteilung des Marion duPont Scott Montpelier Cup, dotiert mit 10.000 Dollar, 3500 Meter über Besen für sieglose Pferde von drei Jahren aufwärts. Sie sah die Menschen über den Hügel laufen. Viele Rennbegeisterte, vor allem die Kenner, wollten weg von der Masse und die Pferde beobachten.
Ein nagelneuer Landrover, dessen mitternachtsblauer Lack im Novemberlicht schimmerte, fuhr am Rand der Bahn. Harry konnte sich nicht vorstellen, wie jemand ein so teures Fahrzeug kaufen konnte. Sie sparte eisern, um den 78er Ford-Transporter zu ersetzen, der trotz seines Alters noch munter tuckerte.
Dr. Larry Johnson steckte den Kopf aus dem Beifahrerfenster des Landrover. »Alles klar?«
Harry salutierte. »Ja,Sir.«
»Hallo, Tucker«, sagte Larry zu dem treuäugigen Hund.
»Hi, Doc.«
»Wir haben ungefähr zehn Minuten.« Larry wandte sich Jim Sanburne zu, Minis Ehemann und Bürgermeister von Crozet, der am Steuer saß. »Nicht, Jim?«
»Könnte hinkommen.« Jim lehnte sich zum Beifahrerfenster hinüber, seine massige Gestalt verdeckte das Licht von der Fahrerseite. »Harry, Sie wissen, daß Charles Valiant und Mickey Townsend sich zanken wie Katze und Hund, also achten Sie gut auf die Rennen, für die beide Nennungen haben.«
»Worum geht's?« Harry hatte nichts von dem Streit gehört.
»Keine Ahnung. Diese verdammten Trainer sind die reinsten Primadonnen.«
»Mickey hat Chark beschuldigt, er hätte Addie angewiesen, letztes Jahr beim Maryland Hunt Cup seinen Jockey zu behindern. Sein Pferd hat beim sechsten Hindernis gezögert und konnte es dann nicht ganz packen«, erklärte Larry.
»Mickey ist ein schlechter Verlierer«, sagte Jim brummend zu Larry. »Der bricht einem die Finger, wenn man ihn beim Damespiel schlägt - vor allem, wenn's dabei um Geld geht.«
Harry seufzte. »Das reicht noch weiter zurück.«
»Stimmt. Charles haßt Mickey seit der allerersten Verabredung, die Mickey mit seiner Mutter hatte.« Jim führ mit dem Finger unter seinem Gürtel entlang. »So was nimmt manche Söhne ganz schön mit. Aber Charles hatte allen Grund zu der Sorge, daß Townsend nur ihr Geld wollte.«
»Chark verstand nicht, wie sie Mickey Arthur vorziehen konnte.« Larry Johnson erinnerte sich an die Romanze, die vor sieben Jahren begonnen und mit Erschütterung und Entsetzen für jedermann geendet hatte. »Ich schätze, jede Frau, die Arthur mit Mickey vergleicht, wird Mickey den Vorzug geben. Ich glaube nicht, daß es etwas mit Geld zu tun hatte.« »Können Sie auf Anhieb sagen, welche Rennen.«
Bevor Harry ihre Frage beenden konnte, dröhnte Jim Sanburnes Baß: »Das dritte, das fünfte und das sechste.«
»Nigel Danforth reitet für Townsend«, fügte Larry hinzu.
»Das hat Addie mir erzählt«, sagte Harry.
Jim lächelte. »Und Sie haben von den beiden gehört.«
»Am Rande. Ich weiß, daß Addie verrückt nach ihm ist.«
»Ihr Bruder nicht.« Larry verschränkte die Arme.
»Ach je, Alltag in Virginia.« Harry schlug gegen die Tür des Landrover.
»Ein wahres Wort«, sagte Jim. »Man stecke zwei Virginier in einen Raum, und man bekommt fünf Meinungen.«
»Nein, Jim, man steckeSie in einen Raum, und man bekommt fünf Meinungen«, frotzelte Larry.
Jim lachte. »Ich bin nur Bürgermeister einer Kleinstadt und gebe die verschiedenen Meinungen meiner Wähler wieder.«
»Wir kommen nach dem ersten Rennen vorbei. Brauchen Sie etwas? Essen? Getränke?« fragte Larry, während Jim noch vor sich hin lachte.
»Nein danke.«
»Okay, Harry, dann hole ich Sie in ungefähr einer halben Stunde ab.« Jim fuhr den Hügel hinauf, Larry winkte.
Harry stemmte die Hände in die Hüften und dachte nach. Jim, über sechzig, und Larry, über siebzig, kannten sie seit ihrer Geburt. Sie kannten Harry in- und auswendig, und Harry kannte sie ebenso. Das war auch ein Grund, weshalb ihr nichts daran lag, Queen der Madison Avenue zu sein. Sie gehörte hierher zu ihren Leuten. Es gab eine Menge, das nicht ausgesprochen werden mußte, wenn man mit den Menschen so vertraut war.
Diese abgekürzte Form der Verständigung traf nicht für Boom Boom Craycroft zu, die über die Hügelkuppe gesegelt kam wie ein voll aufgetakelter Clipper. Da Boom Boom einmal eine Affäre mit Harrys Exmann gehabt hatte, gehörte die üppige, große und elegante Frau nicht zu Harrys Lieblingen auf dieser Erde. Boom Boom schwelgte im emotionalen Gepränge des Lebens. Heute schwelgte sie in dem herzhaften Vergnügen, sich auf Harry zu stürzen, die sich ihr nicht entziehen konnte, weil sie Bahnrichterin war.