31
Da niemand Anspruch auf Nigel Danforth' Leichnam erhob, wurde er auf Kosten der Steuerzahler von Albemarle County in einem Armengrab beigesetzt.
Seine Habe befand sich in seiner Sattelkiste im überfüllten Spindraum der Polizeiwache.
Cynthia Cooper rief Mickey Townsend an, er solle die Sachen abholen. Ihre Dienststelle hatte jeden einzelnen Gegenstand etikettiert und fotografiert.
Er folgte ihr in den Umkleideraum.
»Erst wollte ich Adelia die Kiste geben, weil er keine unmittelbaren Angehörigen hat. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto stärker entschied ich mich dagegen. Es könnte sie zu sehr aufregen, und dieses Wochenende findet das große Rennen statt. Sie waren sein Arbeitgeber. Sie müssen als Angehöriger herhalten.«
»Darf ich sie aufmachen?«
»Sicher.«
Er kniete sich hin und hob die Messinghaspe an der kleinen Holzkiste an. Ein Reithelm lag auf der zusammengefalteten leichten Rennhose. Er legte ihn auf die Erde und die Hose daneben. Zwei alte dicke Wollpullover und eine kurze Daunenwinterjacke folgten. Auf dem Boden lag ein Sortiment von diversen Peitschen, sowie Rasierzeug.
»Fühlen Sie mal.« Mickey reichte ihr eine Peitsche und deutete auf das lederne Viereck am Ende.
»Das ist schwer. Was ist da drin?«
»Ein Vierteldollar. Ist streng verboten, aber nirgends steht, daß er das nicht beim Training benutzen darf. Ein Schlag damit schmerzt höllisch, das kann ich Ihnen sagen.«
»Nicht viel vorzuweisen für ein ganzes Leben, nicht?«
»Er hatte ein paar schöne handgeschneiderte Kleidungsstücke aus London. Hemden von Turnbull & Asser. Solche Sachen. Mit irgendwas hat er Geld gemacht.«
»Ja. Ich erinnere mich, wie wir die Hütte durchsucht haben. Gab aber nicht viel mehr her als ein paar gute Kleidungsstücke. Wir haben die Sattelkiste nur deshalb so lange behalten, weil er darauf saß. Wir haben sie innen und außen auf Fingerabdrücke untersucht.«
Mickey schob die Hände in die Taschen der Daunenjacke. Er durchsuchte die Innentasche. Leer.
Erst als er nach Hause kam und die Jacke an einen Sattelhaken hängte, wobei er sich fragte, wem er die Sachen schenken sollte - vielleicht einem armen, mageren Jungen, der sich abrackerte, es in der Welt des Rennens zu etwas zu bringen - , bemerkte er dort, wo der Kragen auf der Passe der Daunenjacke auflag, einen verdeckten Reißverschluß. Nigel hatte die Jacke so viel getragen, daß der Kragen zerdrückt war und den Reißverschluß verbarg. Durch das Aufhängen am Sattelhaken wurde der Kragen geradegezogen. Darin mußte eine Kapuze sein, ein Schutz gegen schlechtes Wetter.
Aus Neugierde zog Mickey den Reißverschluß auf und entfaltete die Kapuze. Ein dumpfes Klirren lenkte seinen Blick auf den weichen Lehm im Gang des Stalles.
Er bückte sich und hob ein Christopherusmedaillon auf. Er fing so heftig an zu zittern, daß er sich Halt suchend gegen die Box lehnte.
Das schön gearbeitete goldene Medaillon hatte die Größe eines 5O- Cent-Stückes. Über dem ausgefeilten Relief des heiligen Christopherus, der das Jesuskind trug, waren mehrere Schichten erlesener blauer Emaille. Die Gravur in akkurater kleiner Schrift auf der goldenen, nicht emaillierten Rückseite lautete:Er ist mein Stellvertreter. In Liebe, Charley.
Mickey brach in Tränen aus und drückte das Medaillon an seine Brust. »Heiliger Christopherus, du hast sie im Stich gelassen.«
Das Medaillon hatte Marylou Valiant einst an einer dicken geflochtenen Goldkette um den Hals getragen.
Als er sich wieder in der Gewalt hatte, stand Mickey auf. Er ging zum Telefon in der Sattelkammer, um Deputy Cooper anzurufen. Sein Instinkt sagte ihm, daß die Kapuze im Kragen einfach übersehen worden war. Hätte er die Jacke nicht aufgehängt, wäre sie ihm auch entgangen.
Er setzte sich an das alte Schreibpult und nahm den Hörer ab.
Er dachte bei sich:Was, wenn sie sie gesehen und fotografiert haben? Vielleicht wollen sie mich ködern. Ich bin ein Verdächtiger. Er legte den Hörer wieder auf die Gabel.Nein, sie haben sie übersehen. Er hielt das hübsche Medaillon in beiden Händen.Marylou, dieses Medaillon wird mich zu deinem Mörder führen, und ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, ich mache ihn fertig. Wenn Nigel dich ermordet hat, dann möge er ewig in der Hölle schmoren.
Er stand abrupt auf und schob das Christopherusmedaillon in seine Tasche.
32
»Sie hat Susan rumgekriegt, uns und die Pferde zu versorgen«, stöhnte Tucker.»Sie packt ihre Sachen. Was sollen wir tun?«
»Ich kann mich unter dem Sitz vom Ford verstecken und dann in den Pferdeanhänger springen.« Mrs. Murphy legte sich auf die Seite. Sie hatte sich so viele Gedanken gemacht, daß sie erschöpft war.
»Aber ich passe nicht unter den Sitz«, jammerte Tucker.»Und du brauchst mich. Mutter braucht mich, sie weiß es bloß nicht.«
»Ich überlege.«
Tucker ließ den Kopf zwischen ihre weißen Pfoten sinken, so daß ihr Gesicht Mrs. Murphys gegenüberlag.»Es werden noch mehr Morde geschehen! Alle werden sterben!«
»Du darfst dich da nicht reinsteigern. Und sei mal eine Minute still. Ich überlege noch.« Fünf lange Minuten vergingen.»Ich habe eine Idee.«
»Ja?« Tucker sprang auf.
Mrs. Murphy setzte sich ebenfalls auf. Sie konnte es nicht leiden, wenn Tucker auf sie herabsah.»Geh in ihr Schlafzimmer und bettle, flehe, heule. Mach, daß sie dich mitnimmt.«
»Und was ist mit dir?« Tuckers sanfte braune Augen waren voll Besorgnis.
»Sie wird mich nicht mitnehmen. Das wissen wir beide. Ich kann genauso gut reisen wie du, aber Mutter hat es sich in den Kopf gesetzt, daß Katzen nicht gerne reisen.«
»Ja, weil du...«
»Das habe ich bloß einmal gemacht!« brauste Mrs. Murphy auf. »Ich wünschte, du würdest das vergessen.«
»Mutter vergißt es nicht. Ich versuche zu denken wie sie«, redete Tucker sich heraus.
»Wenn der Tag kommt, wo wir denken wie ein Mensch, sind wir in Schwierigkeiten. Wir sind ihnen geistig überlegen, das ist der Clou. Sie wird mich nicht mitnehmen. Wenn sie dich mitnimmt, ist wenigstens eine von uns bei ihr. Sie braucht einen Aufpasser, weißt du. Wenn sie was Unbesonnenes tut, könnte sie wirklich in Teufels Küche kommen. Aber eigentlich mache ich mir viel mehr Sorgen um Mim.«
»Mim?« Tuckers Zunge schnellte einen Moment heraus, ein rosa Ausrufezeichen.
»Marylou Valiant ist in ihrem Stall vergraben. Coty Lamont und jemand namens Sargent haben den Leichnam vor fünf Jahren dorthin geschafft. Richtig? Also, Mim mag ja heil und gesund sein, aber Tatsache bleibt, daß eine ermordete Frau, eine gute Freundin von ihr, auf ihrem Grund und Boden vergraben ist. Was, wenn sie es herausfindet?«
Tucker, die ihre Freundin gut kannte, nahm ihren Gedankengang auf.»Es ist ein kleiner Kreis, diese Rennbahngesellschaft. Mim ist wichtig in dieser Welt.«
»Eins ist mal sicher.«
»Was?«
»DerMörder hat ein Kartenspiel bei sich.«
»Das hat halb Amerika.« Murphy rieb sich an Tuckers Brust und kitzelte die empfindliche Hundenase mit ihrem Schwanz.
»Eins läßt mir wirklich keine Ruhe: Wenn ein Mord begangen wurde, ist das letzte, was ein Mörder will, die Leiche auszugraben. Die Leiche ist es doch, die die Mörder belastet.«