47
Die Kälte kroch in den Stall. Zuerst spürte es niemand, doch als Harry, Miranda und die beiden Tiere Rick Shaws Mannschaft beim Graben in Orions Box zusahen, kroch ihnen die Kälte in die Knochen.
Als die Mitarbeiter des Sheriffs ankamen und die zwölf Quadratmeter große Box sahen, wußten sie nicht, wo sie anfangen sollten, also fing Tucker an der betreffenden Stelle an zu graben. Die Menschen folgten ihrem Beispiel, weil Cynthia erklärte, daß Hunde dank ihres scharfen Geruchssinns Dinge riechen konnten, die Menschen nicht wahrnahmen.
Mrs. Murphy war es leid, im Mittelgang auf dem Boden zu sitzen, deshalb kletterte sie auf den Heuboden, wo sie mit Rodger Dodger, Pusskin und den Mäusen hinunterblickte, während die Menschen arbeiteten. Spatenladung für Spatenladung wurde sorgsam auf die Seite gehäuft, zuerst der Bodenbelag aus pulverisierten Steinen, dann Lehm.
Mim, die Schafswolljacke eng um sich gezogen, trat zu den Leuten. »Was gefunden?«
»Nein«, antwortete Harry.
»Glauben Sie, daß Mickey Ihnen einen Bären aufgebunden hat - daß Sie hier umsonst graben?« fragte sie.
Rick, die Arme verschränkt, erwiderte: »Ich muß alles versuchen, Mrs. Sanburne. Keine Sorge, wir bringen alles wieder in Ordnung, so wie wir es vorgefunden haben.«
Draußen hielt ein Wagen, eine Tür wurde zugeschlagen, und ein vergrämter Arthur Tetrick kam in Richtung Stall geschritten. »Mim?« rief er. »Sind Sie hier draußen?«
»Hier.«
Arthur rief beim Gehen: »Ich habe Chark freibekommen! Er fliegt morgen nach Hause. Ein Krankenwagen bring Adelia am Donnerstag, wenn die Ärzte einverstanden sind.« Er bemerkte die Grabungsarbeiten. »Was ist denn hier los?«
»Das wissen wir nicht genau«, antwortete Mim.
Harry fröstelte.
»Wollen Sie nicht in die Sattelkammer gehen?« schlug Miranda vor. »Sie haben nicht genug Fleisch auf den Rippen, um die Kälte abzuwehren. Nicht wie ich.« »Nein. Ich laufe ein bißchen herum.« Harry schüttelte die Beine aus und ging den Gang auf und ab. Tucker ging mit ihr.
»Na, willst du Lorbeeren einheimsen, Tucker?« brüllte die Tigerkatze.
»Ach, halt den Mund. Du bist ja bloß neidisch.«
Ein Polizist traf auf etwas Hartes. »Nanu?«
Rick und Cynthia traten näher. »Seien Sie vorsichtig.«
Die anderen beiden Polizisten stießen ihre Spaten behutsam in die Erde. »Ja.« Wieder war ein leichtes Klicken zu hören.
Sie arbeiteten jetzt schneller, mit jedem Stich kamen sie der Sache näher, bis ein Brustkorb erschien.
»O mein Gott!« rief Mim aus.
»Was ist das?« Arthur schob sich zum Rand vor, sah den Brustkorb und einen nur teils freigelegten Arm, während die Männer fieberhaft weitergruben.
Arthur fiel mit einem Rumms zu Boden.
»Schlappschwanz.« Mrs. Murphy rümpfte die Nase.
48
Charles Valiant wirkte viel älter als seine fünfundzwanzig Jahre. Dunkle Ringe unter den Augen verunzierten sein hübsches Gesicht. Er hatte seit Addies Sturz nichts gegessen. Weder Fair noch seine Freunde konnten ihn zum Essen bewegen. Boom Boom nahm sich, wie alle anderen, ab und zu seiner an. Sie sprach leidenschaftlich von >Lifeline< und versorgte ihn mit Lesestoff, doch er war viel zu deprimiert, um darauf zu reagieren.
Fair saß mit ihm im Wohnzimmer der Hütte auf Mims Grundstück. Harry kochte Wasser für eine Tasse Fertigsuppe. Mrs. Murphy und Tucker lagen still auf dem Teppich.
»Chark, Sie müssen etwas essen«, bat Harry.
»Ich kann nicht«, flüsterte er.
Ein Klopfen an der Tür ließ Fair von dem gemütlichen alten Sessel hochfahren. Er öffnete. »Arthur.«
Arthur trat bedrückt ein und schloß rasch die Tür hinter sich. Er zwang sich zu einem Lächeln. »So, eins wissen wir jedenfalls.«
»Was?« Fairs blonde Bartstoppeln ließen ihn wie einen Wikinger aussehen.
»Schlimmer kann's nicht werden.«
Harry sagte nichts, denn sie dachte, es könne durchaus noch schlimmer werden und würde es auch, wenn der Mörder nicht bald gefaßt wurde.
»Charles, Adelia wird vollkommen wiederhergestellt sein, ehe du dich's versiehst. Sie wird zu Hause sein, bevor die Woche um ist. Bitte iß etwas, damit sie sich nicht auch noch umdich Sorgen macht«, redete Arthur ihm zu.
»Er hat recht«, sagte Fair.
»Ich habe bloß mal reingeschaut, um zu sehen, wie es dir geht.« Arthur streckte die Hand aus. »Fast hätte ich es vergessen. Gratuliere zum Antritt deines Erbes. Ich weiß, du wirst es klug verwenden.«
»Oh«, Charks Stimme klang schwach, »das hatte ich ganz vergessen.«
»Diese beschwerliche Zeit geht vorüber. Alles wird gut, Charles. Und was Adelia betrifft« - er faltete die Hände -, »vielleicht hat sie recht. Sie muß ihre eigenen Wege gehen und sie selbst sein. Ich glaube wirklich, daß sich alles zum Besten wenden wird.« »Danke, Arthur.« Charles schüttelte ihm die Hand.
»So, ich muß machen, daß ich weiterkomme.«
»Ich begleite Sie zu Ihrem Wagen.« Harry öffnete die Eingangstür, und auf dem Weg fragte sie: »Weiß man schon, wer das war in Orions Box? Ich meine, mit Sicherheit?«
Arthur schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich denke, wir wissen es alle.« Ein erstickter Schrei blieb ihm im Halse stecken. »Sie so zu sehen, wo ich dachte, ich würde sie nie wiedersehen.« Er nahm sich zusammen. »Ich werde Mim natürlich einen ausgezeichneten Strafverteidiger empfehlen.«
»Wozu?« fragte Harry unschuldig.
»Die Leiche wurde auf ihrem Grund und Boden gefunden. Ich nehme doch an, daß sie verdächtigt und möglicherweise verhaftet wird.«
Harry hob die Stimme. »Haben denn alle den Verstand verloren? Marylou war eine von Mimsbesten Freundinnen.«
»Die meisten Morde werden an Verwandten oder Freunden verübt.« Er hob die Hände. »Nicht daß ich auch nur für eine Minute glaube, daß Mim Sanburne sie ermordet hat. Aber im Moment ist Mim in einer prekären Lage. Gehen Sie hinein, bevor Sie sich den Tod holen.«
Harry kehrte in Charks Hütte zurück, schloß die Tür fest hinter sich und dachte über die Redensart>sich den Tod holen< nach - als sei der Tod eine Ware, die man sich aus dem Regal nimmt.
49
Mrs. Murphy verließ den Stall morgens um halb sieben und nahm die Abkürzung über die Heuwiesen, sie brauchte Zeit für sich, um nachzudenken. Sie streifte Habichtskraut, was jenes eigentümliche Geräusch verursachte, das Stadtmenschen immer erschreckt, wenn sie es zum erstenmal hören. Der leichte Frost, der sich kalt anfühlte an ihren Fußballen, würde bis zehn Uhr morgens vergangen sein und sich nur an sehr schattigen Stellen oder auf dem Bachboden halten.
Ein tiefer, schnellfließender Bach trennte Harrys Farm von Blair Bainbridges Land, einem Anwesen, das einst der Familie von Reverend Herbert Jones gehört hatte. Murphy hoffte, Blair werde bald zurückkehren, denn sie hatte ihn gern. Als Model gehörte er zu der wachsenden Zahl von Amerikanern, die in ihrem Job viel Geld verdienten, aber lieber in einer hübschen Gegend als in der Großstadt lebten. Er war allerdings oft unterwegs.
Murphy blieb am Bach stehen, sah dem Wasser zu, wie es gurgelte und die glatten Steine übersprühte. Mrs. Murphy, die Wasser nie viel abgewinnen konnte, mochte es noch weniger, wenn das Quecksilber unter fünfzehn Grad sank. Sie beugte sich über die tiefe Böschung, denn dort waren stille Tümpel, und wenn sie sich ruhig verhielt, konnte sie die kleinen Fische sehen, die sich dort tummelten. Sie hatte einmal erlebt, wie Paddy, ihr Exmann, einen Schwarzbarsch fing, eine Leistung, die ihre Leidenschaft für ihn entflammt haben mußte, wenngleich sie heute nicht verstehen konnte, was sie je an diesem treulosen Kater gefunden hatte. Trotzdem, er sah gut aus und war liebenswert.