»Auf dich, Cody«, sagte Dad. »Auf das Ende eines lan gen Tages.« Er beugte sich zu mir herüber und schenkte mir ein bisschen Wein in mein leeres Glas.
Ich hatte schon vorher ein paarmal Wein getrunken, aber nie Dads edles Zeug. Ich kostete ihn und schmeckte Eichenholz, Staub und die Sonne eines Sommertages, der schon viele Jahre zurücklag.
»Nicht schlecht«, sagte ich.
»Hundertzwanzig Dollar die Flasche - und er sagt
>nicht schlecht««, meinte Dad. »Wir ziehen da einen Con naisseur groß.«
»Wer war das am Telefon?«, fragte Mom.
»Ileana Antonescu«, antwortete ich. »Etwas wegen der Schule.«
»Habt ihr irgendwelche Stunden gemeinsam?«, fragte Dad.
»Ein paar.«
Dad beugte sich vor. »Wie ist es dort überhaupt? Was ist passiert, nachdem ich weg war?«
»Nun, es ist so ziemlich wie eine ganz normale Schule«, sagte ich. »Sie arbeiten härter und die Lehrer sind seltsa mer als an der Cotton Mather.«
»Klingt vielversprechend«, meinte Dad.
»Hat dich wenigstens jemand herumgeführt?«, fragte Mom.
»Ja.«
»Glaubst du, es wird dir dort gefallen?«, fragte Dad.
»Kann ich nicht sagen«, war meine Antwort. Ich trank den Wein und spürte, wie er meine Zunge streichelte.
Als mein Glas leer war, hielt ich es Dad hin.
»Nur noch ein kleines bisschen«, sagte er.
Aber dieses kleine bisschen genügte. Mein Kopf be gann zu dröhnen. Ich konnte die Augen kaum mehr of fen halten. Und obwohl ich Hunger hatte, war mir ein fach nicht nach Essen. »Entschuldigt bitte«, sagte ich und stand auf. »Ich gehe ins Bett.«
»Ich lass dir eine Kleinigkeit da für den Fall, dass du später noch mal wach wirst«, sagte Mom.
Ich wurde tatsächlich später wieder wach. Ich weiß nicht, wie viel später es war. In meinem Zimmer war es stockdunkel, im Haus war es ruhig und der ganze Him mel war von Wolken bedeckt.
Ich lag einfach da, spürte meine Blutergüsse und hörte zu, wie der Wind die Bäume ein wenig zum Seufzen brachte.
Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Es fühlte sich so an, als würde der Morgen nie kommen, und es spielte keine Rolle. Ich war jetzt in Sicherheit.
Jetzt konnte ich nachdenken.
Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich gerade den besten oder den schlechtesten Handel meines Lebens ab geschlossen hatte.
Ich würde mir für den Rest meines Lebens keine Sor gen mehr über Noten oder Arbeit machen müssen.
Ileana hatte mich vor jedem anderen Vampir an der Vlad Dracul geschützt. Alles, was ich zu tun hatte, war, Däumchen zu drehen, bis die Vampire mich aufs College brachten — eines in Kalifornien, dafür würde ich sor gen —, und danach würde ich nie wieder von zu Hause wegmüssen.
Was also machte mich daran krank?
Ich wälzte mich im Bett herum. Ganz gleich wie sehr ich es auch versuchte, ich konnte nicht herausfinden, was an der ganzen Sache falsch war. Ich dachte wieder und wieder darüber nach. O h n e Anstrengung Einsen be kommen. O h n e Anstrengung aufs College. Sogar ohne Anstrengung einen Job kriegen. Wo war da der Haken?
Nach einer Weile begann ich mich zu fragen, ob ich am nächsten Tag nicht zu Hause bleiben sollte, da ich einfach keinen Schlaf fand. Mir kam das absolut ein leuchtend vor.
»Warum nicht?«, sagte ich mir schließlich. »Es spielt keine Rolle, ob ich hingehe oder nicht.«
U n d dann schlief ich ein, gerade noch rechtzeitig, um zu hören, wie mein Wecker zu läuten begann.
Ich kann heute nicht dorthin.
Ich wankte zum Telefon hinunter. Der Prospekt der guten alten Vlad Dracul lag gleich daneben und die Te lefonnummer stand vorne drauf.
»Vlad-Dracul-Highschool«, meldete sich Ms Prentiss'
sanfte Stimme.
»Hallo, hier ist Cody Elliot«, sagte ich. »Ich melde mich für heute krank.«
»Ach du meine Güte«, antwortete Ms Prentiss. »Na, dann erholen Sie sich gut, Master Cody.«
So kinderleicht war es also, einen Tag zu Hause zu bleiben.
»Ist dir nicht gut, Cody?«, fragte M o m und sah besorgt aus.
»Ich bin bloß müde. Ich hab nicht geschlafen«, ant wortete ich.
»Ehrlich gesagt, Cody, hatte ich zu hoffen angefangen, dass du eine Schule gefunden hast, wo du dich endlich hinsetzt und mit Lernen anfängst«, sagte Dad.
»Lass mich in Ruhe!«, erwiderte ich. »Ich habe alle meine Hausaufgaben. U n d wenn ich in den nächsten neun Wochen nicht lauter glatte Einsen kriege, kannst du mich auf eine Militärschule schicken.«
Ich knallte meine Zimmertür zu und warf mich aufs Bett. Dann schlief ich wieder ein.
Am frühen Nachmittag wachte ich auf und streckte mich. Ich hatte noch immer Schmerzen, aber die Stellen, die nicht wehtaten, fühlten sich gut an.
Ich hatte etwas Blödes von Horvath zusammenge träumt. Ich hatte in seinem Büro gesessen und er hatte direkt vor mir gestanden, hatte gelächelt und mich mit Süßigkeiten gefüttert. Es waren weiche, kleine, sehr süße Bonbons und er steckte mir eins nach dem anderen in den Mund. Es war bloß so, dass ich ihren Geschmack nicht mochte. Ich war aufgewacht, denn nachdem ich die ersten paar hinuntergeschluckt hatte, hatte ich die an deren einfach im Mund behalten und der war jetzt voll.
Ich lachte. Ich wette, Horvath hätte das wirklich für mich getan, solange er mich in seiner Schule brauchte.
Ich kam drauf, dass ich jetzt hungrig war, und stand auf.
Das Haus war leer. Auf dem Tisch lag eine Notiz.
M o m war einkaufen gegangen.
Ich spazierte durch die Zimmer und fühlte mich wohl.
Heute konnte ich tun, wozu auch immer ich Lust hatte.
Ich musste herausfinden, wann die Wasserballspiele stattfanden. Abgesehen davon konnte ich frei über meine Zeit verfugen. Vielleicht konnte ich von zu Hause aus arbeiten. Nicht dass ich überhaupt irgendwas arbeiten musste.
Ich fragte mich, an welchen Colleges in Kalifornien genügend Vampire im Vorstand saßen oder was auch im mer, dass ich dort einfach so antanzen könnte. Und Sti pendien. Ich würde mich um ein paar bewerben müssen, damit alles seine Richtigkeit hatte.
Ich blickte aus den Fenstern zum Garten. Der H i m mel war noch immer grau, der Boden nach wie vor weiß und die Bäume schwarz. Ich spürte, wie diese Szene rie mich irgendwie umfing, in mich eindrang. Ich sah diese Wolken an und es war, als könnte ich viele Jahre in meine Zukunft blicken. Bloß Wolken und noch mehr Wolken, aber ich würde einfach durch sie durchschwe-ben, mich treiben lassen. Ich brauchte überhaupt nichts zu tun.
Justin und Ileana hatten jetzt wohl gerade ihre siebte Stunde und gingen wahrscheinlich ihre Hausaufgaben über Beteigeuze durch. Ich hätte wetten können, dass sie gestern bis Mitternacht auf gewesen waren, um ihre Auf gaben zu machen.
Aber, he, sie waren Vampire! Wahrscheinlich zogen sie Mitternacht vor.
Ich würde trotzdem morgen wieder zur Schule gehen und Ms Vukovitch ein leeres Blatt Papier abgeben. Viel leicht würde ich Beteigeuze draufschreiben, damit sie wusste, welche Aufgabe das sein sollte. Ich würde es mit der N o t e Eins zurückbekommen. Ich würde Mr Mach ein Blatt Papier geben, auf dem stand: Ich weiß überhaupt nichts über Mozart, und eine Eins kriegen. Shadwell -
Shadwell würde ich am Ende des Jahres ein Stück Papier aushändigen, auf dem genau in der Mitte Das ist ein Epos stand, und ich würde eine Eins darauf kriegen. Sozial künde: eine Eins. Turnen: eine Eins. Wasserball — wen kümmerte es? Sie konnten mir jede Note geben, die sie wollten. Es spielte keine Rolle.
Das ungute Gefühl kehrte zurück.
Mittagessen. Ich brauchte unbedingt was zu essen.
Also machte ich mir ein Sandwich und schenkte mir Milch ein. Ich aß einen Apfel, der von irgendeinem O r t kam, an dem die Sonne schien. Ich fühlte mich satt, aber nicht besser. Es war so, als würde ich noch immer diese Bonbons schlucken.