Nach dem Essen wusch Justin das Geschirr ab, ich er ledigte das Abtrocknen und Ileana räumte es ein. Um uns bei Laune zu halten, wie sie es ausdrückte, las Mrs War rener uns aus einem Buch von einem gewissen James Thurber vor. Er hatte einen Haufen verrückter Ver wandter in Ohio und von ihnen handelte das Buch. Die Geschichten hatten Titel wie »Der Hund, der die Leute biss« und »Die Nacht, in der das Gespenst kam«. Über diese letzte Geschichte musste ich so lachen, dass ich die Salatschüssel fallen ließ. Zum Glück war sie aus Holz.
Nachdem wir fertig waren, fragte Ileana Justin: »Hast du Cody schon Illyrien gezeigt?«
»Oh. Nein«, antwortete Justin. »Ich dachte, es würde ihn nicht interessieren.«
»Ist es noch immer dort unten?«, fragte Ileana.
»Ja klar«, meinte Justin.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Bloß so ein Spiel, das wir immer gespielt haben«, er widerte Justin.
»Es ist das beste Spiel der Welt!«, sagte Ileana. »Eigent lich ist es eine Welt. Komm, Justin, zeigen wir es Cody.«
»Na ja, ich weiß nicht«, sagte Justin. »Ich bin eine Weile nicht unten gewesen.«
»Jetzt mach schon«, sagte ich. »Wenn es wirklich so toll ist, möchte ich es spielen.«
»Hört sich fiir mich nach einer guten Idee an«, fügte Mrs Warrener hinzu. »Warum geht ihr drei nicht eine Stunde nach unten und ich mache euch eine heiße Schokolade, wenn ihr wieder zurück seid?«
»Also gut«, sagte Justin. Er ging zur Kellertür und knipste das Licht an. »Aber wir müssen nicht bleiben, wenn es niemanden interessiert.«
Wir gingen noch mehr alte Stufen hinunter, aber diese waren aus Stein. Auch die Kellerwände waren aus Stein.
Es war ein riesiger R a u m mit einem Haufen Regalen an den Wänden, auf denen sich Berge von altem Zeugs stapelten. Starke Holzbalken stützten die Zimmerdecke und in der Mitte des Raums war ein steinerner Bogen.
Es sah aus, als würde das Ganze zu einer Burg gehören.
Aber der beste Teil war der Boden. Er war mit Fla schen, Schachteln und allem möglichen Zeug bedeckt, das zu Spielzeugstädten arrangiert war. Da gab es ganze Wälder, die aus Lehmklumpen bestanden, in die Zwei ge gesteckt waren, und Berge und Hügel aus Gips und Hühnerdraht. Es gab mit blauer Kreide gemalte Flüsse und mit grüner Kreide gemalte Wiesen. Und wo ich auch hinschaute - überall waren Spielzeugsoldaten.
Es waren keine modernen Soldaten. Sie waren hand bemalt und aus Metall. Sie ritten auf Pferden und trugen Schwerter. Einige waren flach. Hier und da gab es ein paar wenige Prinzessinnen- und Hofdamenfiguren.
»Das ist es also«, meinte Justin.
»Illyrien«, sagte Ileana glücklich.
Sie bahnte sich ihren Weg zu einer der Städte am anderen Ende des Kellers.
»Das ist meine Stadt«, sagte sie. »Neu Florenz. Stadt der Dichter, Musiker und Schauspieler. Soldaten verboten.«
Ich ging hinüber und sah mir ihre Stadt an.
»Das hier ist die Rotunde«, sagte Ileana und zeigte auf einen großen Kuchenteller mit einer Glasglocke. »Hier werden die Theaterstücke aufgeführt und die Dichter tragen ihre Werke vor.«
»Das ist die Kathedrale«, fuhr sie fort und deutete auf eine geschnitzte Holzschatulle, auf der eine blaue Flasche stand. »Hier ist das Krankenhaus, dort die Bibliothek, dann das Cafe und das da ist das Museum.«
Die Gebäude in Ileanas Stadt waren durch Parks von einander getrennt oder um Plätze herum verteilt, die in einander übergingen. Es war großartig, aber irgendetwas daran ergab keinen Sinn. Die Straßen und Plätze waren voller Soldaten.
»Ich dachte, du hättest gesagt, Soldaten sind hier ver boten«, meinte ich.
»Schau sie dir an«, erwiderte Ileana. »Haben sie Waf fen?«
Hatten sie nicht. Jedes Gewehr, jedes Schwert und jede Pistole waren abgebrochen worden. Manchen der Solda ten fehlten sogar Arme oder Beine.
»Kein Soldat darf nach Neu Florenz, bevor er sich nicht von seinen Waffen getrennt hat«, sagte Ileana. »Das ist Anaxander«, erklärte sie und überreichte mir einen der unbewaffneten Soldaten, einen Kavalleristen in schwarzer Uniform. »Er ist unser größter Dichter. Da drüben ist sein Freund Vasco. Der zweitgrößte Dichter, aber der größte Sänger.«
Mir fiel auf, dass sowohl Vasco als auch Anaxander nur einen Arm hatten.
»All diese Männer haben den Krieg aufgegeben und ihre wahre Berufung gefunden«, erzählte mir Ileana.
»All diese Männer sind kaputtgegangen«, erwiderte Justin. »Die unversehrten sind in den anderen Städten.«
»Welche ist deine?«, fragte ich.
»Die da«, sagte Justin. »Ich nenne sie Drei Hügel.«
Drei Hügel war die größte Stadt von Illyrien. Sie war auf drei von Justins Hühnerdraht-Hügeln und dem Platz dazwischen erbaut. Der große Unterschied zwischen ihr und den anderen Städten lag darin, dass eine Mauer mit Wachtürmen und Kanonen um sie herumführte.
»Das ist total cool«, sagte ich.
»Früher sind wir jeden Tag hier heruntergekommen«, erzählte Ileana. »Bis ich weggezogen bin. Aber du hast nicht daran weitergebaut, Justin.«
»Ich hab's ein paarmal versucht«, antwortete Justin.
»Aber ohne dich hat es nicht viel Spaß gemacht.«
»Warum heißt es eigentlich Illyrien?«, fragte ich.
»Weil es ein schöner Name ist«, gab Ileana zurück.
»Klingt so ähnlich wie deiner«, sagte ich. »Ileana, Illyrien.«
»Nein, nein«, meinte Ileana. »Diesen Ort gibt es wirk lich. Oder gab es wirklich. Es war eine Provinz des Römischen Reiches. Auch Napoleon hat sie eine Zeit lang wieder aufgebaut. U n d Shakespeare hat darüber ge schrieben.«
»Aber Shakespeare hat nur den Namen verwendet«, sagte Justin. »Er hat nichts über das wirkliche Illyrien ge wusst.«
»Darum ist es so vollkommen«, meinte Ileana. »Weil es real und gleichzeitig auch nicht real ist.«
»Wie spielt ihr es?«, fragte ich.
»Wir haben bloß Sachen erfunden«, sagte Justin.
»Wir haben alles erfunden«, sagte Ileana. »Wir haben ihnen Gesetze gegeben, ihre Literatur geschrieben und in ihren Stücken gespielt. Wir haben ihre Geschichte zum Leben erweckt und sie dann niedergeschrieben.
U n d die Leute erlebten Dinge. Abenteuer.«
Justin wurde rot. »Es war bloß kindisches Zeug«, sagte er.
Ich sah mir Illyrien an und wünschte, es wäre real und ich wäre mit Justin und Ileana dort.
»Das ist großartig«, sagte ich.
»Justin, lass uns Cody zeigen, was wir damit gemacht haben«, meinte Ileana.
»Naja ...«, kam es von Justin.
»Bitte!«, sagte ich.
»Okay«, meinte er. »Die Stadt dort drüben gehört dir.
Sie heißt Palmyra, aber du kannst den Namen ändern, wenn du willst.«
Palmyra war ein kleiner Ort mit bloß drei großen Ge bäuden und etwa einem Dutzend Soldaten. Aber es hatte einen guten Hafen und rundherum war eine Menge Platz für neue Gebäude.
»Palmyra ist cool«, sagte ich.
Als es Zeit zum Aufhören war, hatte ich ein paar olivgrüne Schalen aus Pressglas gefunden und Fracht schiffe daraus gemacht. Sie transportierten Salz und ich bewahrte es in zwei Reihen von Salzstreuern auf, die ich auch dafür verwendete, eine lange gerade Straße zu säumen, die Palmyra mit Neu Florenz verbinden sollte.
Ich hatte auch damit begonnen, gleich neben dem neuen Rathaus — einer alten Saftdose, die wie eine Blockhütte aussah — einen Park anzulegen.
Justin baute einen Vorort für Drei Hügel. Er nahm ein paar Walnussschalen von den anderen Städten und ver streute sie ein Stück außerhalb der Mauer.
»Das sind die Häuser für jene Leute, die nicht mehr in Drei Hügel wohnen wollen, weil es dort zu viele Vor schriften gibt«, erzählte er uns. »Sie sind loyal, aber sie wollen entspannter leben. Sie verkaufen Blumen und Früchte an die Stadt.«