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Es ergab in der modernen Fassung auch nicht viel mehr Sinn.

»Wo hast du das gelernt?«, fragte ich. »Und wa rum?«

»Auf dem College«, sagte M o m und zuckte mit den Achseln.

Es ist seltsam, wenn einen die eigenen Eltern überra schen. U n d das war ein dickes Buch. Über dreihundert Seiten.

»Kannst du das ganze Zeug aufsagen?«, fragte ich.

Sie lachte. »Nur den Prolog«, antwortete sie. »Wir mussten ihn alle lernen.«

Das war erstaunlich. Nicht nur dass meine Mutter uralte Dichtungen kannte, nein, mein Dad hatte auch mal die moderne Fassung gelesen! Und außerdem hatte Geoffrey Chaucer einen Weg gefunden, das zu tun, was auch ich wollte - ein Epos zu schreiben, das sich aus Ge schichten zusammensetzte.

»Ich glaube, die werde ich lesen«, sagte ich.

M o m und Dad warfen sich einen Blick zu.

»Drei Tage an dieser Schule und er liest freiwillig Chaucer«, sagte Dad. »Gesegnet sei Graf Dracula.«

»Während seine Mutter und sein Vater DVDs von alten Filmen anschauen, die schon damals, als sie heraus kamen, schlecht waren«, sagte M o m . »Wir werden als El tern untauglich!«

»Bogart und Bacall haben nie einen schlechten Film gemacht«, meinte Dad. »Höchstens vielleicht einen mit unbedeutenden kleinen Mängeln.«

»Ich gehe in mein Zimmer rauf«, sagte ich. Die beiden Canterbury-Bücher nahm ich mit.

Ich legte die Bücher auf meinen Schreibtisch und kam mir wie ein Genie vor. Ich würde Chaucer lesen; dann würde ich bereit sein, mein eigenes Epos zu schreiben.

U n d dann würde Ileana es lesen, sehen, wie toll ich war, und sich in mich verlieben.

Ich ging ins Bett und lauschte dem sachten, leisen Zi-schen des Schnees, der in dieser durchaus edlen Nacht fiel.

Noten für Gadje

Am nächsten Tag fing ich nach dem Frühstück mit der Arbeit an.

Ich legte die beiden Fassungen der Canterbury-Erzäh lungen nebeneinander und las sie parallel. Zuerst eine Zeile in m o d e r n e m Englisch, danach eine in Chaucers.

Nach einer Stunde war ich bereit aufzugeben. Es war, als würde ich versuchen mit zwei Eimern Zement an den Füßen zu laufen.

U n d außerdem war Chaucer nicht besonders interes sant. Er stellte jeden einzelnen seiner Geschichtenerzäh ler vor und allein das nahm schon achtundzwanzig Seiten in Anspruch. U n d das meiste davon ergab keinen Sinn.

Ich wusste, was ein Rittersmann war, aber was war eine Priorin? Oder ein Kirchenbüttel oder ein Ablasskrämer?

N u r die Liebe brachte mich dazu, bis zum Ende des ers ten Teils durchzuhalten. Bis dahin war es Zeit zum Mit tagessen.

Als ich mich wieder an die Arbeit machte, war ich selbst auf ein paar Ideen gekommen. Es würde in mei nem Epos zwei Dichter geben, die in dieselbe Prinzessin verliebt waren. Sie würden Anaxander und Vasco hei ßen. U n d sie sollten sich einen Wettstreit liefern. Jeder von ihnen würde in ihren Palast gehen, um ihr Ge schichten zu erzählen, und der mit der besten Geschichte sollte sie heiraten.

Ich fand diese Idee so großartig, dass ich auf meinem Stuhl herumhüpfte, während ich sie niederschrieb. Alles, was ich jetzt brauchte, waren die Geschichten, die sie er zählen sollten, und Ileana hatte gesagt, dass sie mir die liefern würde.

Ich nahm das Blatt Papier, auf das ich vor ein paar Nächten Die geschrieben hatte, und fügte Myriade hinzu.

In die Zeile darunter schrieb ich von Cody Elliot.

Ich war so begeistert, dass ich mit meinem Prolog an fing:

» Wenn im August mit seinen heißen Tagen Der Dichter Pferde auf den staub'gen Weiden traben, Dann Anaxander und sein Freund Vasco Gen' Ileanas Burg begeb'n sich froh, Sie mit Geschichten zu berauschen, Während sie dasitzt und ihnen lauscht Und draußen hinterm Fenster glitzert Schnee.

Beide woll'n zur Frau sie nehm'n, o weh.

Doch einer nur wird sie erringen,

Vom hohen Turme fort sie bringen,

Wo Stund um Stund sie lebt,

Zu seiner eig'nen starken Burg.

Und da, in Freundschaft sie verbunden, Nicht kämpfen können sie viel Runden, Auf andre Art gilt's zu buhl'n um sie.

Erzählen woll'n sie kurzweil'ge Geschichten Und dann möge die Schöne richten,

Entscheiden sich mit ihrem Hirn,

Welcher der beiden Ritter gefallet ihr.«

Kein Wunder, dass Shadwell gern Epen schrieb! Ich hatte schon fast eine Seite fertig. Ich würde ein paar Änderun gen vornehmen müssen, das sah ich schon. Um nur eine zu nennen: Die Prinzessin konnte nicht Ileana heißen.

Aber das war leicht. Das große Problem war, wie ich er klären sollte, warum mitten im August draußen Schnee glitzerte. Aber ich wollte jetzt nicht aufhören, um das zu lösen. Ich war in Fahrt.

* * *

Der Montagmorgen fing ziemlich gut an. Z e h n Seiten von meinem Epos waren fertig. Ich hatte für alle meine Hausaufgaben etwas gemacht. U n d ich war gespannt, welche Noten ich auf die bereits abgegebenen bekom men hatte, und freute mich Ileana und Justin zu sehen.

U n d außerdem freute ich mich auf die Schwimmhalle.

Das Leben war nicht leicht, aber es begann interessant zu werden.

Dann, etwa fünf Minuten bevor M o m mich zur Schule bringen wollte, klopfte es an der Tür. Als sie öff nete, stand dort ein Chauffeur.

»Master Cody?«, sagte er.

M o m hatte ihre altejogginghose an und der Chauffeur war wie ein deutscher General angezogen. Sie starrte ihn bloß an. Sie hatte noch nie einen Jenti aus der Nähe ge sehen und dieser Typ war schon was. Groß, bleich, ein längliches Gesicht und eine ach so sanfte Stimme.

»Ah ... ja. Er wohnt hier«, war alles, was sie heraus brachte.

»Wiedersehn, Mom«, sagte ich und schlüpfte an ihr vorbei.

Ich drehte mich um und blickte zurück, als der Chauf feur mir die Autotür öffnete. M o m lächelte und winkte, aber ich wusste, dass sie sprachlos war.

Ich winkte zurück, rief »Bis später« und stieg ein. Es fühlte sich gut an, sie so überrascht zu sehen.

Das hielt vielleicht eine Sekunde an.

Es saßen bereits vier andere Kids im Wagen, die Kaffee aus der kleinen Espressomaschine im hinteren Teil der Limousine tranken. Sie waren alle älter als ich.

Sie musterten mich von oben bis unten und kehrten dann zu ihrem Gespräch — worüber auch immer — zu rück, das sie in ihrer eigenen Sprache führten. Manchmal klang es wie knirschende Felsen. Manchmal wie Wasser, das über Steine plätschert. Mittendrin hörte ich zwei Worte, die ich erkannte: Gadjo und Stoker.

»Nur für den Fall, dass irgendjemand in diesem Auto Englisch spricht — ich bin kein Stoker«, sagte ich.

Alle vier sahen mich mit ausdrucksloser Miene an und unterhielten sich dann einfach weiter. Wenigstens hörte ich diese beiden Worte nicht noch einmal.

Doch als ich durch die großen goldenen Türen ging, stand dort Ms Prentiss und wartete auf mich.

»Master Cody«, sagte sie lächelnd. »Kommen Sie bitte mit mir mit. Direktor Horvath würde gerne mit Ihnen sprechen.«

»Was hab ich denn angestellt?«, fragte ich.

»Oh, nichts dergleichen, Master Cody«, sagte sie und lächelte noch breiter, während sie mich mit starker Hand zum Büro geleitete. Sie hatte knallrot lackierte, wirklich lange Fingernägel.