Mein Magen zog sich zusammen. Ich hatte von diesem O r t gehört. Jedes Kind in der Stadt fürchtete sich davor, dorthin geschickt zu werden.
»Aber — aber wir sind ja nicht mal katholisch«, piepste ich.
»Das ist auch nicht notwendig«, antwortete Dad mit Genugtuung. »Viele ihrer allerschwierigsten Schüler ha ben einen anderen religiösen Background. Früher oder später kriegen die jeden klein. Zumindest hat Clancy Kincaid mir das versichert.«
Ich glaubte es. Ich hatte dort einmal vorbeigeschaut, als ich den Unterricht schwänzte. Man erzählte sich, dass man die Schreie durch die Mauern hindurch hören konnte. Das hatte ich zwar nicht, aber ich habe niemals die Worte vergessen, die in den Stein über dem Ein gangstor eingemeißelt waren:
I H R , DIE I H R H I E R E I N T R E T E T , LASSET
ALLE H O F F N U N G F A H R E N - D A N T E
»Aber — es ist teuer, nicht wahr?«, sagte ich. »Ich meine, eine Privatschule —«
»Leicht erschwinglich«, schnurrte Dad. »Ich verdiene hier einen Haufen mehr als bei Billings, Billings und Bil lings. Aber ich dachte mir schon, dass du lieber auf die Vlad Dracul gehst, wenn du die Bedingungen dort er füllen kannst.«
Keine Ahnung. Ich kannte die Vlad Dracul, aber nur dem Namen nach. Die Kids in der Cotton Mather sagten nie viel darüber, außer so Sachen wie: »Die Football-Mannschaft tritt diesen Samstag gegen Vlad an. Betet für sie.«
Als ich das gehört hatte, fragte ich den Jungen, der das gesagt hatte, warum das so eine große Sache sei.
»Halt die Klappe«, hatte seine Erklärung gelautet.
»Jetzt komm schon — was ist da los? Schicken sie die Kids, die von Unserer Lieben Frau von den Immerwäh renden Hausaufgaben fliegen, an die Vlad Dracul?«, hatte ich gefragt.
»Hör jetzt mal zu, du Blödmann«, hatte er geantwor tet. »Sprich diese Worte niemals aus. Sag nie den ganzen Namen. Und, nein, sie schicken die Kids, die von der ULF fliegen, nicht dorthin. Keine echten Eltern würden ihr Kind jemals an die Vlad schicken.«
U n d das war alles, was ich je darüber gehört hatte.
»Vlad Dracul! Was für ein Name für eine Schule!«, sagte Mom.
»Was meinst du damit?«, fragte Dad.
»Ich meine damit«, gab Mom zurück, »dass Vlad Dra cul ein brutaler, grausamer rumänischer Herrscher aus dem fünfzehnten Jahrhundert war, der seine Gefangenen lebend auf Pfähle aufspießte. Was hat sich die Schul behörde bloß dabei gedacht?!«
»Es scheint in dieser Stadt eine beträchtliche Anzahl rumänischstämmiger Amerikaner zu geben«, antwortete Dad. »Antonescu hat mir erzählt, dass Vlad der Pfähler für die Rumänen ein richtiger Held ist. Offenbar haben sie die Schule also aus Stolz auf ihre Abstammung nach ihm benannt.«
»Na, dem Rest von uns ist er besser als Dracula be kannt«, gab Mom zurück.
»Na und?«, sagte Dad. »Die Schule hat den höchsten Notendurchschnitt im ganzen Bundesstaat. U n d nicht nur das — die Kids, die hier ihren Schulabschluss machen, gehen nachher an die Top-Universitäten. Nicht bloß ein paar von ihnen — alle. U n d zwar jedes Jahr.«
»Ich möchte nicht, dass Cody diese Schule besucht«, sagte M o m .
»Dann wird es Unsere Liebe Frau von den Immer währenden Hausaufgaben«, erwiderte Dad. »Für mich sind beide okay.«
»Darf ich auch etwas dazu sagen?«, fragte ich.
»Ich wüsste nicht, warum«, sagte Dad, »angesichts der Tatsache, dass wir diese Unterhaltung hier wegen deiner hartnäckigen Weigerung führen, die akademischen Min deststandards zu erfüllen. Aber nachdem ich das jetzt los geworden bin, klar, schieß los. Was möchtest du sagen?«
Was möchte ich sagen? Tu mir das nicht an? Bring mich nach Hause? Ja, klar, aber das wird nicht passieren. Jedenfalls nicht heute Abend.
»Wie wäre es mit einer Privatlehrerin?«, sagte ich. »So um die fünfundzwanzig und gut aussehend?«
»Danke für deinen Vorschlag«, meinte Dad. »Morgen sehen wir uns ein paar Schulen an.«
Vlad-Dracul-Magnet-Schule
Von außen sah die Vlad-Dracul-Magnet-Schule fast nor mal aus, bloß besser als die meisten staatlichen Schulen.
Okay — sie sah besser aus als irgendeine staatliche Schule, die ich je gesehen hatte. Aber denkt daran, ich rede hier von der Außenseite. Bloß von der Außenseite.
Erstens war der Campus riesig. Die Gebäude standen verstreut darauf herum und zwischen ihnen gab es eine Menge freien Platz. Und einen Haufen Bäume. Alle Ge bäude waren aus leuchtend gelben Ziegeln erbaut und um sie herum führte eine Straße. Es gab zwei einstöckige Gebäude für die Grundschule und dazwischen irgendet was Großes, von dem ich annahm, dass es die Cafeteria war. Und es gab eine ganze Menge teuer aussehender Schulhofgeräte zu sehen, die mit Schnee bedeckt waren.
Eine schmale Straße, die auf beiden Seiten von Bäu men gesäumt war, trennte den Schulhof von der Mittel stufe, die in zwei zweistöckigen Gebäuden untergebracht war. Dann gab es noch eine weitere Straße und die Highschool. Zu ihr gehörten fünf große Gebäude, über deren Eingangstüren Worte wie KLASSIKER, WIS
S E N S C H A F T oder T H E A T E R eingemeißelt waren.
Ein Stück weiter standen noch drei Gebäude, die wie Villen aussahen und einander zugewandt waren.
»Ist das wirklich eine staatliche Schule?«, fragte ich Dad.
»Die beste im ganzen Bundesstaat«, antwortete er.
»Zumindest hat Antonescu das gesagt. U n d wenn ich mir das hier so ansehe, glaube ich es gerne.«
Er parkte das Auto auf dem Schulgelände und wir steuerten auf das erste Gebäude zu. Auf einem Schild in der Nähe war zu lesen: DIE B Ü R O S B E F I N D E N SICH GLEICH LINKS V O N DEN E I N G A N G S T Ü R E N .
Diese Türen. Als wir die Stufen hinaufgingen, leuch teten sie wie Gold. Sie sahen aus, als würden sie eine Tonne pro Stück wiegen, aber als ich sie berührte, schwangen sie lautlos auf.
Was ich dann sah, ließ die Außenseite wie einen Slum erscheinen. Da gab es schwarze Marmorsäulen und rote Marmorsäulen und weiße Marmorböden und -wände.
Es gab Kristallluster und riesige Ölgemälde, auf denen ein Haufen Typen zu sehen waren, die sich mit Schwertern bedrohten. Die Klassenzimmertüren waren aus ziemlich teuer wirkendem, wohlriechendem Holz.
Wir gingen durch die erste Tür zu unserer Linken.
Dahinter saß eine silberhaarige Frau an einem Schreib tisch, der aussah, als wäre er groß genug für einen Flug zeuglandeplatz. Der Teppich war gemustert und wirkte, als würde er demnächst zu einem kleinen Flug abheben, und die Wände waren mit noch mehr von dem teuer rie chenden Holz vertäfelt. Es gab sogar einen Kamin.
»Entschuldigen Sie bitte«, begann Dad. »Mein Name ist Jack —«
»Kommen Sie doch bitte herein, Mr Elliot«, sagte die Sekretärin. Sie erhob sich und ich glaube, sie muss über zwei Meter groß gewesen sein. »Direktor Horvath freut sich Sie und Ihren Sohn kennenzulernen.« Sie hatte einen wirklich weichen New-England-Akzent.
Sie wandte sich an mich.
»Und Sie sind also Master Cody? Willkommen. Ich bin Ms Prentiss, die Sekretärin von Mr Horvath.«
Sie streckte mir die Hand entgegen und ich nahm sie.
Ich war überrascht. Ihr Händedruck war fest, wirklich fest.
Dann drückte sie einen Knopf auf ihrem Schreibtisch.
»Mr Horvath, die Elliots sind jetzt da.«
Die Tür hinter ihr schwang auf — noch eine Tür, die sich lautlos öffnete - und Mr Horvath kam heraus.
Er war sogar noch größer als Ms Prentiss und schüt telte uns beide Hände, als wären wir alte Freunde, die er jahrelang nicht gesehen hatte.
»Mr Elliot und Sohn. Bitte treten Sie ein. Nehmen Sie Platz. Wir müssen uns unterhalten«, sagte er. Dabei legte er mir die Hand auf die Schulter und führte uns in sein Büro.