Das ergab überhaupt keinen Sinn.
Auf meinem Heimweg gab es eine Brücke, die über einen kleinen Bach führte. Ich lehnte mich ans Geländer und blickte nach unten. Der Bach war zum Großteil noch zugefroren, aber in der Mitte floss ein winziges Rinnsal wie eine Ader voller Blut.
Ich erinnerte mich an Justin und den Tag, an dem wir uns kennengelernt hatten. Was für eine Angst er vor diesem schnell dahinfließenden Wasser gehabt hatte. Das erweckte in mir das Bedürfnis, hinunterzugehen und meine Hand in den Bach zu tauchen. Ich konnte viel leicht nicht so gut denken wie ein Jenti, ich würde viel leicht nie so viel wissen, aber es gab ein paar Dinge, die ich konnte und von ihnen keiner.
Ich passte sehr gut auf Ileanas Buch auf, als ich die Uferböschung hinunterrutschte und mich am Rand der Eisfläche niederkauerte.
Das Wasser sah glücklich aus, sich so schnell bewegen zu können. Wenn ich darüber nachdenke, war es das wahrscheinlich auch. Anders als ich hatte es ein Ziel. Es würde in einen Fluss münden, das Meer finden und, wer weiß, vielleicht zur rechten Zeit vom Atlantik in den Pa zifik fließen und an die Küste Kaliforniens gespült wer den. Und ich würde hier sein.
Ich tauchte meine Hand ins Wasser und ließ sie dort, bis sie sich taub anfühlte. Als ich meine Finger nicht mehr spüren konnte, ging ich ein Stück bachabwärts.
Der Bach machte eine Biegung, stürzte etwa einen Meter nach unten und bildete einen winzigen Wasserfall.
Der Teich am Fuß des Wasserfalls war zugefroren, aber die Stelle, an der das herabfallende Wasser auftraf, war noch immer eisfrei. Die Wolken spiegelten sich darin und zappelten, wenn das Wasser sich kräuselte.
Wolken. Ileana mag Wolken.
Unten am Bach wehte eine kalte Brise und das starre tote Schilf bewegte sich. Etwas dort flatterte sachte. Ein paar Möwenfedern.
Ich hob eine vom gefrorenen Boden auf.
Und sie mag Möwen.
Jetzt wusste ich, was dem Buch fehlte. Ich musste mir etwas einfallen lassen, wie ich es mit den Dingen füllen konnte, die Ileana liebte. Ein Büch mit Wolken und Mö wen und allem anderen, von dem Justin gesagt hatte, dass sie es mochte. Ich wusste noch nicht, wie ich das ange hen sollte, aber ein Anfang war gemacht. Ich hielt ihn in meinen eisigen Fingern.
Wie packt man Wolken in ein Buch? Ich löste es fol gendermaßen: Ich borgte mir Dads Kamera aus, ging in den Hinterhof und verschoss einen Film.
Ich brauchte den ganzen Vormittag dafür; ich wartete auf ein paar Wolken, die halbwegs interessant aussahen, und machte dann drei, vier Fotos, während sie vorüber zogen. Ich bin kein Fotograf, aber sogar ich weiß, man kann sich nicht darauf verlassen, dass ein Foto ausreicht.
Dann spazierte ich durch die Gegend und hielt Aus schau nach Eichen. Als ich fündig wurde, räumte ich den Schnee weg und suchte nach goldbraunen Blättern.
Schließlich hatte ich genug für eine ordentliche Buch seite zusammen. Ich klebte sie auf eine Seite in der Buchmitte und fixierte sie noch zusätzlich mit Haarspray.
Die Möwenfedern ordnete ich gleich am Anfang des Buches so an, dass sie aussahen wie ein Flügelpaar.
Als ich die Fotos vom Entwickeln abholte, nahm ich die besten und schnitt sie so zurecht, dass sie auf eine Seite zwischen den beiden anderen passten, und klebte sie ein. Auf keinem war die Art Wolke drauf, die Justin als Ileanas Lieblingssorte bezeichnet hatte, aber wenn man sie alle zusammennahm, sahen sie ziemlich gut aus.
Was die Sterne betraf, war ich mit meiner Weisheit aber am Ende. Bilder würden nicht funktionieren. Ers tens war es die ganze Zeit bewölkt. Zweitens wusste ich, dass man Sterne nicht wirklich fotografieren konnte.
Dad hatte es einmal versucht, als er seine Kamera bekam, und es waren bloß undeutliche kleine Lichtpunkte he rausgekommen. Ich dachte daran, Papiersterne zu ver wenden, aber das sah mir dann doch zu sehr nach vierter Klasse aus.
Dann überlegte ich, ob ich ihr vielleicht etwas von dem geben könnte, woraus Sterne gemacht sind, so wie Diamanten aus Kohle bestehen. Also fragte ich Ms Vu kovitch.
»Sterne bestehen natürlich in erster Linie aus Wasser stoff«, sagte sie zu mir. »Aber man kann in ihnen Spuren aller Elemente finden.«
Na toll. Eine kleine Tüte Wasserstoff auf die letzte Seite ihres Buches geheftet — Ileana würde das bestimmt großartig finden.
Ihr Geburtstag rückte immer näher und ich kam nicht weiter.
Am Montag vor ihrer Party saß ich im Wohnzimmer und sah fern. M o m war ausgegangen und Dad war noch nicht zu Hause, also zappte ich mich durch die Kanäle, was beide hassten und mir nie erlaubten. Sie kauften mir auch keinen eigenen Fernseher, was das Problem gelöst hätte.
Als ich jedenfalls so durch die Programme zappte, kam mir auch eine dieser Werbungen für Astro-Hotlines un ter, und da waren sie, über der 800er-Telefonnummer —
Sterne.
Sterne. Übersinnlich. Astrologie.
Ich rief Justin an.
»Hallo, Justin, ist Ileana hier in N e w Sodom auf die Welt gekommen?«, fragte ich.
»Klar.«
»Und hat sie wirklich am siebten Geburtstag?«
»Nö, am sechsten«, antwortete er.
»Weißt du, zu welcher Uhrzeit?«
»Es muss ziemlich spät gewesen sein. Sie hat mir ein mal erzählt, dass ihr Vater die Hebammen aufwecken musste. Aber warum fragst du?«
»Ich versuche ihr die Sterne zu schenken«, erwiderte ich. »Ich erklär's dir später. Danke, Justin.«
Ich holte mir das Telefonbuch - und wisst ihr was?
In den Gelben Seiten gibt es eine ganze Liste von Astro logen.
Ich sah mir die Inserate an und rief schließlich die Astrologin an, die am nettesten aussah. Sie hieß Allison Antares.
Ich erzählte ihr von Ileanas Buch und dass Sterne das einzige von ihren Lieblingsdingen war, das in diesem Buch noch fehlte. U n d dass ich mir gedacht hatte, ein as trologisches Diagramm von ihrer Geburtszeit wäre eine Möglichkeit, sie ihr zu schenken.
Das gefiel Allison Antares so gut, dass sie lachte und sagte, sie sei entzückt mir zu helfen. Sie verlangte nicht mal was dafür.
»Keine Deutung, natürlich. Dafür müsste ich was be rechnen. Aber ich werde gerne ein Geburtsdiagramm als Geschenk beisteuern. Sie muss sich glücklich schätzen, dass es in ihrem Leben einen so einfühlsamen Jungen gibt.«
»Ah ... genau«, stimmte ich zu und spürte, wie mein Gesicht heiß wurde.
Ein paar Tage später war das Diagramm in der Post. Es war ein wunderschönes Rad, das mit diesen schicken Zeichen bedeckt war, die Astrologen verwenden. Oben stand in geschwungener Schrift Geburtsdiagramm für Ileana Antonescu. Ich klebte es auf die letzte Seite von Ileanas Buch und war bereit für die Party.
Leicht heroisch
Endlich war es Samstag. Um Punkt zwei Uhr setzte mich mein Vater vor dem Haus der Antonescus ab. Ich sah es zum ersten Mal. Es war riesig, so ähnlich wie das Weiße Haus, nur größer. Die ganze Vorderseite entlang standen Säulen und es gab ein langes abfallendes Rasenstück, das jetzt aber nur aus totem Gras und Matsch bestand. Der Weg, der zum Haus hinaufführte, war breit genug für einen Lastwagen.
Aus allen Richtungen kamen Jenti-Kids herbei. Die Straße war voller schicker altmodischer Autos, die Jenti-Kids ausspuckten. Alle sahen mich durch ihre dunklen Brillen hindurch an, als fragten sie sich, wer das Schwein im Hof freigelassen hatte.
Ich hing beim Tor herum — natürlich hatte Ileanas Haus Tore - und hoffte, dass Justin auftauchte und wir gemeinsam hineingehen konnten. Die Jenti gingen an mir vorbei, warfen mir ihren Entlaufenes-Schwein-Blick zu und gingen schweigend weiter. Aus dem Inneren des Hauses drang Musik zu mir nach draußen. Violinen, die irgendwas Klassisches spielten.