Das klingt jetzt wie eine große Sache, aber ich spürte überhaupt nichts, wirklich. Abgesehen von dem Schwin delgefühl und der Angst, die ich mir selbst zu verdanken hatte.
Aber für Justin bedeutete es etwas. Er keuchte wie ein Ertrinkender, der wieder zum Leben erwacht. Er warf den Kopf zurück und ich sah seine Vampirzähne. Eines seiner Beine zitterte. Dann, als mein Blut in ihm zu zir kulieren begann, wurden die Vampirzähne immer kürzer und sein Bein hörte zu zittern auf.
Eigentlich war es ziemlich bedrohlich. Kein Wunder, dass die Jenti diesen R u f haben.
Nach ein paar Minuten schüttelte Justin den Kopf, als wäre er k. o. gegangen und käme wieder zu Bewusstsein.
Dann lächelte er mich an.
»Das war schon zum zweiten Mal das Netteste, was je mals jemand für mich getan hat«, sagte er.
»Du kannst dich revanchieren, indem du mit mir auf diese verdammte Party gehst«, erwiderte ich. »Die Li mousine wartet.«
Mrs Warrener räumte die Nadeln und das ganze Zeugs weg und ich rollte meinen Ärmel wieder hinunter.
»Ruh dich lieber noch ein bisschen aus, Cody«, sagte sie. »Du bist vielleicht ein bisschen benommen. Ich hol dir ein paar Schokoladenkekse.«
»Mir geht's gut«, sagte ich, stand auf und kippte, die Beine in der Luft, nach hinten.
Sie legten mich auf ein Sofa und Justin und Mrs War rener setzten sich neben mich. Sie sah besorgt aus und er lächelte.
»Okay, ich denke, ich nehme die Kekse«, sagte ich.
Ich setzte mich auf und nach etwa einer halben Pa ckung ging's mir besser.
»Übrigens«, meinte Justin, »hat Ileana was gesagt, als du ihr erzählt hast, was du für mich tun willst?«
»Ja, etwas auf Jentisch. Frag mich nicht, was.«
»Ich schätze, ich weiß es.« U n d er wiederholte es.
»Ja, das war's«, sagte ich. »Wieso hast du das gewusst?«
»Es ist bloß etwas, was ich von ihr aufgeschnappt habe, als wir Kinder waren«, antwortete er. »Es ist ein Segen:
»Flieg geradewegs und sicher nach Hause.< Aufgeht's, wir wollen feiern!«
Alles Gute zum Geburtstag, Prinzessin!
Als wir zum Auto gingen, öffnete der Chauffeur die Tür, verbeugte sich und schlug wieder die Hacken zusammen.
»Der Typ ist aber voll bei der Sache«, sagte ich, als wir es uns auf dem Rücksitz bequem machten.
»Das sollte er auch«, erwiderte Justin. »Du bist schließ lich wer.«
Wir kamen in den Ballsaal, gerade bevor das Dessert serviert wurde. Als wir in der Tür standen, müssen mehr als zweihundert Leute den Kopf gehoben und uns ange starrt haben. Während wir die Treppe hochgingen, wa ren Musik und Gesprächsfetzen zu hören gewesen, doch jetzt herrschte Totenstille.
»Oje, wir sind spät dran«, wisperte ich.
Mr Antonescu erhob sich von seinem Platz und kam zu uns herüber.
»Wie geht es euch, Jungs?«, fragte er. »Seid ihr beide in Ordnung?«
»Jetzt schon«, antwortete Justin.
»Klar«, sagte ich.
Mr Antonescu führte uns zu dem Tisch an der Spitze.
Ileana saß in der Mitte, neben sich Gregor und einen Platz weiter ihre Mutter. Die beiden Stühle auf ihrer an deren Seite waren leer.
»Na toll, wir werden mit Gregor essen«, flüsterte ich.
»Ja natürlich, sie konnte ihn schlecht woanders hinset zen«, erwiderte Justin. »Er ist ihr Cousin.«
Als wir den R a u m durchquerten, stand Ileana auf. Sie sagte ein paar Worte auf Jentisch und alle anderen erho ben sich ebenfalls — sogar Gregor, der als Letzter aufstand und aussah wie ein Hofhund an der Kette. Mr Antonescu rückte unsere Stühle für uns zurecht. Noch immer fiel im ganzen R a u m kein einziges Wort.
Justin und ich standen vor einem ganzen Saal voller Jenti, die uns anstarrten und, dem Ausdruck auf ihren Gesichtern nach zu schließen, genauso wenig kapierten wie ich, was da eigentlich vor sich ging.
Dann flüsterte Ileana: »Bitte setzen Sie sich, Sir«, und mir wurde bewusst, dass ich damit gemeint war.
Also nahm ich Platz und sie ebenfalls und der ganze Saal setzte sich.
»Justin, geht's dir gut?«, fragte Ileana.
Justins Antwort war ein Grinsen und ein Zeichen, das er mit zwei Fingern machte. Er krümmte sie und machte damit eine kleine zuschnappende Abwärtsbe wegung.
Ileana hielt sich ihre Serviette vors Gesicht und lachte leise hinein. Ihre Schultern zuckten.
»Was ist so witzig?«, wollte ich wissen.
»Nichts«, sagte Justin. »Ich hab ihr nur gesagt, wie gut's mir geht.«
»Und wie gut geht es dir?«, fragte ich. »Was war das für eine Handbewegung, die du da gemacht hast? Warum sind alle aufgestanden?«
»Diese Handbewegung ist eine bei uns gebräuchliche Geste«, erwiderte Ileana und versuchte die Luft anzuhal ten, um das Lachen zu unterdrücken. »Sie bedeutet heut zutage so viel wie >okay<. Aber vor langer Zeit hat sie >Es war ein Festmahl« bedeutet.«
»Entzückend«, gab ich zurück.
»Und sie sind alle aufgestanden, weil sie an einem Tag wie diesem in meiner Gegenwart nicht sitzen bleiben können. Und ich bin aufgestanden, weil ich dich ehren wollte, ritterlicher Dichter von Illyrien.«
Unter dem Tisch ergriff sie meine Hand und drückte sie.
»Oh. Okay. He«, sagte ich. Ich spürte, wie ich rot wurde.
Sie nickte den Musikern zu und die begannen wieder zu spielen. Die Desserts wurden hereingebracht und schwungvoll vor uns abgestellt. Als die Hauben von den Tellern gehoben wurden, sah ich, dass Justin und ich je zwei bekommen hatten. Die anderen nicht.
»Esst«, sagte Ileana. »Ihr müsst euren Blutzuckerspiegel wiederherstellen. Es ist wenig genug.«
Wie immer bei Jenti-Nahrung wusste ich nicht, was ich da eigentlich aß, aber noch nie hatte ich etwas so Köstliches geschmeckt.
Während ich aß, flüsterte Ileana: »Ich habe davon ge hört, was du zu Erzsebet und Marie gesagt hast. Das war ziemlich witzig, aber sehr unhöflich. Ich wette, es hat ih nen noch nie in ihrem Leben jemand ins Gesicht gesagt, dass sie Vampire sind.«
Dann sagte Gregor etwas zu ihr und sie wandte sich ihm zu, um zu antworten.
»Kennst du Marie und Erzsebet?«, fragte ich Justin.
»Himmel!«
»Nein, aber ich wette, ich kenne die Sorte, von der du da sprichst«, antwortete er. »Echter alter transsylvanischer Adel, nicht wahr?«
»Wir sind echte Transsylvanier«, sagte ich und ver suchte ihren Akzent nachzumachen. »Sie haben mir das Gefühl gegeben, Ungeziefer zu sein.«
Justin lachte.
»Diese Sorte hält auch von amerikanischen Jenti nicht viel«, meinte er. »Mach dir wegen denen keine Sorgen.
Ich glaube, sie sind ziemlich eifersüchtig auf das, was wir hier haben.«
»Und ich kann verstehen, warum«, sagte ich und blickte mich im Saal um. »Das hier muss ein Vermögen wert sein.«
»Das habe ich nicht gemeint«, sagte Justin. »Die meis ten dieser Leute haben einen Haufen Geld. Ich dachte an die Freiheit.«
»Freiheit gibt's auch in Europa.«
»Nicht so wie bei uns hier«, erwiderte er. »Ich spreche von der Freiheit, zu sein, was du willst. Mit deinem Le ben zu machen, was du willst. Vielleicht denkst du, dass die Jenti in New Sodom im Vergleich zu den Gadje nicht viel davon haben. Vielleicht stimmt das auch. Aber wenn man zum Vergleich die alten Traditionen hernimmt, ha ben wir es ganz schön weit gebracht. Und in Europa sind sie zurückgeblieben.«
»Marie hat gesagt, in Europa würde Ileana bereits wis sen, wer ihr Ehemann wird«, sagte ich.
»Sie würde weit mehr als das wissen«, erwiderte Justin.
»Aber sie wäre auch in Europa ein besonderer Fall.«
»Zum Kuckuck, sie wäre überall ein besonderer Fall«, gab ich zurück.