»Er steht auch ziemlich weit oben.«
»Was ist er? Der König?«
»Die Jenti haben keine Könige, nur Königinnen«, ant wortete Justin. »Aber er ist hoch genug oben, um sie hei raten zu können.«
»Das ist Scheiße. Ich verschwinde von hier.«
»Es zeugt von schlechten Manieren, wenn man vor der Mutter aufbricht«, sagte Justin.
»Na und? Ich bin bloß ein blöder Gadjo. Mich will so wieso niemand hier haben.«
Justin legte mir die Hand auf den Ärmel. »Sie will es.
Geh nicht weg, ohne es ihr zu sagen.«
Ich schüttelte ihn ab.
»Ich hab die Schnauze voll! Ich verschwinde jetzt.«
Aber Justin packte mich wieder mit der ganzen Kraft des Vampirs, der er war, am Ärmel. »Renn jetzt nicht davon, ohne ihr eine Chance zu geben, sich von dir zu verabschieden. Du begreifst nicht alles, was hier abläuft.«
»Ich begreife genug«, sagte ich.
»Nein, das glaube ich nicht«, gab Justin zurück. »Du bist wahrscheinlich der erste Gadjo, der je zu einem fünf zehnten Geburtstag eingeladen wurde. Du bist auf jeden Fall der erste, der je eingeladen wurde am Ehrentisch Platz zu nehmen. Und du hast Recht - niemand sonst will dich hier haben. Nicht ihre Eltern, keiner ihrer Ver wandten. Und du kannst dir wohl ziemlich gut vor stellen, was Gregor davon hält. Kapierst du, wovon ich rede?«
»Nein, und lass mich jetzt endlich los, verdammt noch mal!«
»Warum sollte sie das tun?«
Ich schwieg.
»So, wart hier einen Augenblick«, sagte Justin. »Bitte, Cody. Ich möchte dir nicht die Beine brechen müs sen.«
Also saß ich da und kochte vor mich hin, während Justin zwischen den Tänzern verschwand. Ich wartete lange — zumindest kam es mir lange vor — und wurde es schließlich müde. Wenn Justin mir die Beine brechen wollte, musste er mich zuerst erwischen.
In diesem Moment spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.
»Bitte kommen Sie mit mir mit, Sir«, sagte Ignatz.
»Ich bin am Gehen«, gab ich zurück.
»Ich möchte Sie nicht aufhalten, Sir, aber Ihre Gastge ber haben ausdrücklich nach Ihnen gefragt. Bitte folgen Sie mir.«
Von einem über zwei Meter großen Vampir nett ge beten zu werden macht irgendwie jeden Vorschlag zu einem guten Vorschlag. Also ging ich mit ihm den Gang entlang in ein kleines Zimmer, das von Schatten und einem schwachen, warmen Licht erfüllt war. Dort war teten Mr Antonescu mit seiner Frau und Ileana.
Als ich eintrat, machte Mrs Antonescu einen Knicks vor mir. Mr Antonescu verbeugte sich.
»Wenn wir richtig verstanden haben, möchtest du das Fest gerne verlassen«, sagte Mr Antonescu. »Cody, ver zeih uns bitte, dass wir dir nicht richtig gedankt haben, als du mit Justin zurückgekommen bist. Es schien uns das Beste zu sein, Ileanas fünfzehnten Geburtstag nicht zu unterbrechen. Vielleicht war das falsch von uns. Es ist nicht immer leicht, zu wissen, was das Richtige ist, nicht einmal nach jahrelanger Übung.«
»Das ist es nicht«, sagte ich. »Ich - ich muss bloß nach Hause, das ist alles. Ich hätte nicht gewollt, dass Sie Ilea nas Party unterbrechen.«
»Ich möchte jetzt etwas Unpassendes tun«, sagte Mrs Antonescu und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Du hast ein tapferes Herz und bist voller Großmut.«
»Es gibt bei den Jenti Legenden über Gadje wie dich«, sagte Mr Antonescu. »Aber ich bin zuvor noch nie einem begegnet.«
»Ich habe bloß ein bisschen Blut hergegeben.«
»Ja, du hast es hergegeben. Du hast es hergegeben, ohne zu handeln oder auch nur darum gebeten worden zu sein«, sagte Mrs Antonescu. »Das ist alles.«
»Du läufst Gefahr, für uns ein Held zu werden«, mein te Mr Antonescu.
»Nein«, sagte ich. »Ich meine, bitte erzählen Sie es nie mandem. Es war keine große Sache.«
»Mutter, Vater, darf ich meinen Freund einen Mo ment allein sprechen?«, bat Ileana.
Ihre Eltern sahen sich an. »Aber nur kurz, mein Schatz.
Du hast Gäste«, sagte Mr Antonescu.
»Ja, Papa«, erwiderte sie.
Ileana stand im Halbdunkel da und sah wie die Köni gin aus, die sie war. Mir fiel absolut nichts ein, was ich hätte sagen können.
Schließlich sagte sie etwas. »Danke.«
»Gern geschehen.«
»Du weißt, Justin ist mein ältester Freund. Du hast ihn zu mir gebracht. Das war großmütig von dir.«
»Großmut ist nur ein weiterer Gratisservice, den wir anbieten.«
»Bitte«, sagte sie, »ich weiß, dass du geistreich bist, aber bitte nicht jetzt. Es gibt da etwas, was ich dir sagen muss.«
»Wenn es was mit Gregor zu tun hat - das weiß ich be reits.«
»Das weißt du nicht. Nicht einmal Justin tut das. Nie mand außer mir weiß davon. Ich werde Gregor nicht heiraten. Wenn ich jemals heirate, dann jemanden, den ich gerne heiraten möchte. Ich werde nur jemanden hei raten, den ich liebe.«
»Oh. Okay. Gut«, war alles, was ich herausbrachte.
Sie sah mich an, als wartete sie darauf, dass ich noch etwas sagte.
»Gute Nacht«, sagte sie schließlich. »Ich muss auf meine Party zurück.«
Sie ging an mir vorbei, und als sie das tat, strichen ihre Lippen über meine Wange. Ich drehte mich zu ihr um und versuchte sie festzuhalten, aber irgendwie verlor ich das Gleichgewicht und küsste schließlich die Luft, ob wohl ich auf ihr Gesicht gezielt hatte.
»Mein Dichter«, flüsterte sie.
Dann schlüpfte sie hinaus und ich hörte, wie die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.
Die große Limousine war so ruhig wie ein Friedhof um Mitternacht. Sie hatte auf mich gewartet. Ignatz hatte mich zur Tür begleitet und mir beim Einsteigen sogar einen Regenschirm über den Kopf gehalten. Es hatte zu regnen begonnen und die Autofenster waren mit einer silbrigen Schicht überzogen. Der Kopf des Chauffeurs auf der anderen Seite der Trennscheibe war jetzt das einzige andere Menschliche auf der Welt. Was ich damit sagen wilclass="underline" Es war echt privat.
Es gab mir Zeit, mir selbst zu sagen, was für ein Voll trottel ich gewesen war. Konnte nicht mal ein Mädchen küssen, das von mir geküsst werden wollte. Aber ich hatte in mehr als einer Hinsicht das Gleichgewicht ver loren. Und das galt nach wie vor. Meine kühnste Hoff nung war gewesen, dass Ileana vielleicht bald einmal mit mir ins Kino gehen würde. Und jetzt hatte ich herausgefunden, dass sie so was wie eine Königin in Ausbildung war und ans Heiraten dachte. Hallo, wir sind fünfzehn!
Lasst mich wenigstens zuerst mein erstes Jahr am College fertig machen!
Und dann war da auch wieder dieser verdammte Dichterscheiß.
Und ich liebte Ileana - aber wie sehr? Und liebte sie mich? Oder verstand ich ihre Freundschaft und ihre Dankbarkeit dafür, dass ich Justin geholfen hatte, falsch?
Ich bekam das Gefühl, dass auf einmal der Ernst des Lebens begonnen hatte. Bis ich zu Hause war, hatte ich mich ziemlich in meinen Gedanken verheddert.
Als ich hineinkam, sahen sich Mom und Dad wieder mal einen ihrer alten Filme an.
»Wie war's, mein Schatz?«, fragte Mom, griff nach der Fernbedienung und fror das Bild ein.
»Okay«, war meine Antwort.
»Wer hat dich nach Hause gebracht?«, fragte Dad.
»Ileanas Chauffeur«, sagte ich.
»Ho, ho, ho«, meinte Dad. »Wollten sie dir damit eine Ehre erweisen oder dich vorzeitig loswerden?«
»Mich vorzeitig loswerden«, antwortete ich. »Ich hab in die Bowle gekotzt, nachdem wir Flaschendrehen ge spielt hatten.«
»Ich hab nur gefragt«, sagte Dad.
»Du hast einen Witz gemacht«, gab ich zurück, »und ich hab mit einem gekontert.«
»Touche, Jack«, sagte Mom.
»Können wir also davon ausgehen, dass du dich amü siert hast?«, fragte Dad.
»Denkwürdig«, sagte ich. »Es war denkwürdig.«
»Denkwürdig ist gut«, meinte Mom.