Das Bild auf dem Fernsehschirm zeigte irgendeinen Typen, der das Mädchen küsste, in das er verliebt war. Er sah so aus, als hätte er nie in seinem Leben ein Paar Lip pen verfehlt. Er hatte es leicht. Musste bloß einen Blick auf die letzte Seite des Drehbuchs werfen, um zu sehen, wie die Sache ausging.
»Ihr könnt euren Film weiterschauen. Ich geh ins Bett«, sagte ich.
Mr Horvath zitiert ein Gedicht
Als die Limousine mich am Montagmorgen abholen kam, salutierte der Chauffeur und bestand darauf, meine Bücher zu tragen. Die anderen Kids im Wagen rückten für mich zusammen. Einer von ihnen machte mit der Es pressomaschine einen doppelten Mokka und bot ihn mir an. Und sie wechselten kein einziges Wort auf Jentisch, bis wir bei der Schule ankamen.
Sobald ich den Campus betrat, spürte ich, dass etwas sich verändert hatte. Gangauf, gangab nickten Jenti mir im Vorübergehen zu. Ein paar wirklich Freimütige sag ten sogar »Guten Morgen«. Bei einem Jenti war das so wie ein Klaps auf den Rücken.
Als ich die Matheklasse betrat, kam Mr Mach zu mei nem Pult und sagte: »Wissen Sie was, Elliot? Sie machen Fortschritte. Angesichts dessen überlege ich Ihre Arbei ten zu benoten. Was denken Sie darüber?«
»Ich denke, es ist an der Zeit.«
Mr Mach nickte. »Sie haben Recht, das ist es.«
Als ich zum Englisch-Unterricht ging, passte Shadwell mich an der Tür ab.
»Ah, Elliot, wie geht's dem Epos?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Schreibblockade?«, fragte er.
»Nein, ich bin einfach ein lausiger Schriftsteller«, gab ich zu.
»Nun, lass es mich wissen, wenn ich dir behilflich sein kann«, sagte er. »Das Epos ist weiß Gott nicht die einzige Form von Literatur. Du hast vielleicht andere Ta lente, derer du dir gar nicht bewusst bist. Natürlich, die Zeit drängt. Aber wenn es irgendwas gibt, was ich tun kann ...« Er verbeugte sich leicht vor mir.
In Sozialkunde nahm Mr Gibbon mich beiseite.
»Ich habe in Ihrer Arbeit einen beachtlichen Fort schritt festgestellt, Elliot«, sagte er. »Aber Ihr Verständnis für die Finessen dieses Fachs lässt etwas zu wünschen übrig.«
»Das tut mir leid, Mr Gibbon«, sagte ich. »Ich mag Sozialkunde, aber ich kann die Namen all der Leute, die in den Zweiten Prager Fenstersturz im Jahr 1619 ver wickelt waren, einfach nicht auseinanderhalten.«
»1618, um genau zu sein«, sagte Mr Gibbon. »Aber ich würde es bedauern, Sie durchfallen zu lassen. Vielleicht könnten wir uns eine Arbeit über irgendein Spezial thema überlegen, das für Sie von besonderem Interesse ist und das Sie mir dann präsentieren könnten. Es würde in Ihre Gesamtnote mit einbezogen werden.«
»Sie meinen eine echte Forschungsarbeit? Für eine echte Note?«
»Ganz genau, Elliot.«
»Bin dabei«, sagte ich. »Aber an welches Thema haben Sie dabei gedacht?«
»Oh, vielleicht etwas, was die Geschichte der Jenti in Amerika betrifft«, sagte er und blickte zur Decke. »Etliche von uns haben Wirkung gezeigt, wissen Sie. Benedict Ar nold. Aaron Burr. Jefferson Davis. Eine ganze Reihe an derer. Ich schlage Ihnen vor, Whittakers Das stille Erbe zu Rate zu ziehen, das Standardwerk zu diesem Thema. U n d bringen Sie mir bis Ende der Woche Ihren Vorschlag.«
Ms Vukovitch sprach mich nach dem Unterricht an.
»Was machst du in deinen Freistunden am Montag und am Mittwoch?«
»Nichts Besonderes«, antwortete ich.
»Ich möchte, dass du sie bei mir verbringst. N u r wir beide. Ich werde dich privat unterrichten, bis du wie Leonardo oder Einstein denkst - oder sogar wie ich. Ein verstanden?«
»Ja, Ma'am«, sagte ich.
»Ich freu mich darauf, Gadjo-Boy«, meinte sie und warf mir ein Lächeln wie ein Kuss zu.
Jetzt hatte ich also, was ich wollte. Sie würden mich wie einen Jenti benoten. Ich würde härter arbeiten müs sen denn je. Ich konnte gar nicht glauben, wie gut sich das anfühlte.
Ich hätte mir denken können, dass ich in Mr Horvaths Büro beordert werden würde.
»Master Cody«, sagte er und sah mich über seine Fin gerspitzen hinweg an. »Master Cody.« Er hielt inne, als wisse er nicht, was er als Nächstes sagen solle. Seine Zunge schnellte hinein und heraus. »Es sieht so aus, als wären Sie der Held der Stunde.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Sir«, gab ich zurück.
»Welche Bescheidenheit! Und das von einem Gadjo.«
Ich nehme an, er dürfte jenen Tag vergessen haben, an dem er mir gesagt hatte, dass dieser Ausdruck hier nie mals verwendet wurde.
Er stand auf und ging zum Feuer. Als er sich wieder zu mir umdrehte, lag sein Gesicht im Schatten. Ich glaube, das war Absicht.
»Sie haben etwas Nobles getan, Master Cody«, sagte er und hörte sich dabei an, als würde er diese Worte hassen.
»Aber unsere Traditionen sind nicht die Ihren. U n d es gibt Komplikationen, von denen Sie keine Ahnung ha ben. Niemand kann Ihnen einen Vorwurf daraus ma chen, nicht zu wissen, was Ihnen nicht gesagt wurde.
Also werde ich es Ihnen jetzt sagen und ich erwarte von Ihnen, dass Sie in Zukunft diesem Wissen gemäß han deln. Die Beziehungen zur Gemeinde in New Sodom sind sehr delikat. Es liegt in unser aller Verantwortung, Jenti ebenso wie Gadje, sie im Gleichgewicht zu hal ten, so dass jeder Einzelne davon profitiert. Wir brauchen einander. Aber wir können weder der andere werden noch dies zu tun wünschen.« Er machte eine Pause.
»Aber ich sehe schon, dass ich Sie nicht überzeuge.«
»Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich keine Ah nung habe, wovon Sie reden«, sagte ich.
»Aha«, meinte er. »Danke. Dann werde ich direkter sein. Ich möchte keine weiteren Gadjo-Heldentaten. Ich möchte keine ... Verbrüderung zwischen Ihnen und Ih ren Jenti-Klassenkameraden. Kein weiteres Niederreißen gesunder Schranken. Das gefährdet die delikaten Bezie hungen, von denen ich zuvor gesprochen habe. Begrei fen Sie das?«
»Sie möchten also, dass ich wie Blatt, Barzini und Falbo werde?«
»Junge Männer, deren Familien seit Generationen in unserer Gemeinde sind. Die wissen, wie die Dinge lau fen und wie vorteilhaft das ist. Ich würde Ihnen empfeh len, sich von ihnen leiten zu lassen«, sagte Horvath.
»Das ist der Punkt, den ich nicht kapiere«, erwiderte ich. »Ich glaube, das, worüber Sie reden, findet nicht in der Schule statt. Wie kommen Sie dazu, mir zu sagen, was ich in meiner Freizeit zu tun habe?«
»Ich bekleide in dieser Gemeinde eine Position, die hoch genug ist, um das Ganze zu sehen«, sagte Horvath.
»Ich bin mir - im Gegensatz zu Ihnen - bewusst, wie kompliziert die Netze sind, die alles verbinden. Ich möchte nicht abtun, was Sie für Mr Warrener getan ha ben. An sich war das eine noble Tat. Aber es hat Auswir kungen auf die vielen verschiedenen Fäden, die uns als Volk zusammenhalten und unsere Gemeinschaft mit un seren Nachbarn verbinden. Überdies waren Sie, was Ihre Anwesenheit auf Ms Antonescus Party anlangt, äußerst schlecht beraten.«
»Moment mal!«, sagte ich und sprang von meinem Sessel hoch wie mein Dad, wenn er vor Gericht einen Einwand erhebt. »Wer glauben Sie eigentlich, wer Sie sind mir vorzuschreiben, wohin ich gehen darf und wo hin nicht? Ich war eingeladen, um Himmels willen!«
»Sie missverstehen mich«, sagte Horvath ruhig. »Set zen Sie sich wieder. Es steht mir gewiss nicht zu, den Antonescus zu sagen, wen und wen nicht sie bei sich zu Hause empfangen dürfen —«
»Stimmt genau«, sagte ich.
»Hüte deine Zunge. Wir befinden uns jetzt nicht in deinem Gadje-Umkleideraum, Junge«, fuhr Horvath mich an. »Und ich hab dir bereits gesagt, du sollst dich setzen!«
Ich setzte mich. Dann überkreuzte ich die Beine und formte mit meinen Fingern einen kleinen Tempel, so wie Horvath es gerne machte.
»Es steht mir nicht zu, den Antonescus zu sagen, wen sie einladen dürfen«, fuhr er fort. »Aber offen gesagt hat Ihre Anwesenheit in ihrem Zuhause am Samstag andere tief gekränkt; andere, die beinahe so einflussreich sind wie sie.«