»Warum hast du das getan?«, fuhr sie mich an.
»Wegen dem, was er über mich und Justin gesagt hat, natürlich!«
»Was du getan hast, war viel schlimmer.«
»War es nicht.«
»Doch, das war es. Du hast seine Mutter beleidigt, nicht ihn«, sagte sie. »Und du hast dich nur deshalb ge traut, weil du weißt, dass du gezeichnet bist und er dich nicht anrühren darf.«
»Das ist eine Lüge«, erwiderte ich und das war es. Ich war dermaßen wütend gewesen, dass ich das ganze Ge zeichneter-Gadjo-Zeug für einen Moment vergessen hatte. »Ich kann nicht glauben, dass du für ihn Partei er greifst!«
»Ich ergreife für keinen Partei, wie du das nennst«, sagte Ileana. »Aber was du gerade gemacht hast, war wirklich übel.«
»Merk dir eins«, sagte ich. »Niemand, der für einen Freund eintritt, hat Unrecht.«
»Du nennst es vielleicht so, aber das war es nicht«, ent gegnete sie. »Kein Jenti hätte je so etwas gesagt. Du soll test dich schämen! So wie ich mich schäme mit dir zu sammenzusitzen.«
»Mich schämen?«, schrie ich. »Na, denk mal nach, Prinzessin: Ich bin kein Jenti! Erinnerst du dich da ran?«
Das führte dazu, dass der ganze Saal sich nach uns um drehte.
»Nein«, sagte Ileana leise. »Das bist du nicht. Und du bist auch nicht der, für den ich dich gehalten habe. Du bist ein Lügner und ein widerliches Gadjo-Schwein und ich möchte nicht mehr mit dir zusammensitzen.«
Sie stand auf, ging durch den ganzen Saal und setzte sich zu ein paar Mädchen.
Ich starrte ihr hinterher und spürte die Jenti-Augen auf uns beiden ruhen. Etwas im Saal veränderte sich.
Wurde wieder so wie früher.
»Was zum Teufel stimmt eigentlich nicht mit ihr?«, brummte ich schließlich.
Justin schüttelte den Kopf. »Ileana hat eine Menge Würde«, sagte er. »Und die hast du verletzt, weil du das in ihrer Anwesenheit getan hast.«
»Aha, und was hätte ich tun sollen? Einfach dasitzen und zuhören, wie er dich beleidigt?«
»Ich weiß zu schätzen, was du getan hast«, sagte Justin.
»Aber ich bin nicht Ileana.«
»Was hat sie damit gemeint - ich bin nicht der, für den sie mich gehalten hat?«
»Sie meint genau, was sie gesagt hat, denke ich«, war seine Antwort. »Du wirst es schon noch heraus finden.«
»Na schön, ich bin eben bloß ein blöder Gadjo«, sagte ich. »Ich bin sowieso nicht geeignet, mit Prinzessinnen abzuhängen.«
Ich stand vom Tisch auf.
»Wir sehen uns dann in Physik«, sagte Justin.
Ich gab keine Antwort.
Ich ging nicht in den Physik-Unterricht. Wozu auch?
Was mich betraf, hätte Ms Vukovitch den Unterricht ebenso gut auf Jentisch abhalten können. Und wenn Jus tin sich nach der Schule eine Stunde Zeit nahm, um es mir zu erklären - na und? Ich kapierte es noch immer nicht richtig. Wie sollte ich auch - wo mir doch der jah relange schulische Background fehlte, den jedes Jenti-Kid hatte.
Aber das war es eigentlich nicht, was mir Sorgen machte. Ich wusste schon, dass ich für diese Schule nicht gut genug war. Ich war nicht gut genug für Ileana. Ileana, schön, blitzgescheit und von königlichem Blut, die im mer alles richtig machte, weil sie alle Regeln kannte, die an diesem O r t galten. Das würde ich niemals.
Ich dachte wieder an mein Epos und schauderte. In meiner Englischklasse an der Cotton Mather waren wir bis Seite zwölf von Macbeth gekommen. Das entsprach in etwa meinem Tempo. Vielleicht sollte ich dorthin zu rückkehren und nachsehen, ob sie es mittlerweile bis zum Ende des ersten Akts geschafft hatten. Aber was würde das bringen? Nichts. Ich gehörte auch dort nicht dazu.
Ich ging zum Bach hinunter. Er war jetzt sogar noch schmaler als damals, als Gregor und seine Clique versucht hatten Justin hineinzuwerfen. Ein armseliges Rinnsal lief unter einem schmutzigen Himmel durch den ebenso schmutzigen Schnee. Das Wasser floss rasch dahin, ohne irgendwohin zu führen. Es sah verloren aus.
Ich blickte mich um und sah die schönen Gebäude ringsum mit ihren Lichtern, die hinter dem dunkel ge tönten Glas schwach aufleuchteten, in denen diese ele ganten, ruhigen, klugen Fremden damit beschäftigt wa ren, jene Dinge zu lernen, die sie zu etwas Besserem machten, als ich es war. Und Ileana war ihre verdammte Prinzessin.
Egal wie sehr ich es auch versuchte, ich würde nie gut genug sein.
Bis nach Hause war es ein langer Weg. Ich setzte mich in Bewegung.
Brams
M o m war erstaunt, als ich so früh und zu Fuß nach Hause kam, aber sie nahm mir ab, dass ich mich nicht wohlfühlte.
»Bei diesem ekelhaften Winterwetter überrascht es mich, dass wir nicht alle ständig krank sind«, sagte sie.
»Ich bin eigentlich nicht krank«, meinte ich. »Ich hab mir beim Turnen einen Muskel gezerrt. Ich schätze, in ein, zwei Tagen bin ich wieder in Ordnung.«
Und ich humpelte nach oben, ging in mein Zimmer und saß im Dunkeln da.
Am Abend rief Justin an.
»Ich hab dich heute Nachmittag nicht im Unterricht gesehen«, sagte er. »Hab mich gefragt, ob mit dir alles okay ist?«
»Nein«, antwortete ich.
Es gab eine Pause. Dann sagte Justin: »Kann ich dir ir gendwie helfen?«
»Nein«, antwortete ich.
»Sehen wir uns morgen?«
»Nein«, antwortete ich. »Morgen nicht.«
»Oh. Okay. Dann sehen wir uns also am Mittwoch«, meinte Justin.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich. »Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme.« Oder ob.
»Na gut«, sagte er und machte wieder eine Pause.
»Möchtest du Freitag nach der Schule vorbeikommen und Illyrien spielen?«
»Nein«, antwortete ich, »diese Woche nicht.«
Justin seufzte. »Okay«, sagte er. »Man sieht sich.«
»Man sieht sich.«
Es gibt einen O r t in uns, der tiefer als tief und schlim mer als schlimm ist. Wenn man dorthin kommt, wird jede Minute zu Stunden, jede Stunde fühlt sich an wie eine Anstrengung ohne Sinn und alles um dich herum tut dir weh. An diesem O r t war ich jetzt, in meinem eigenen, ganz persönlichen Anti-Illyrien. U n d es gab niemanden, dem ich auch nur davon erzählen konnte.
Ich saß nur in meinem Zimmer, eingehüllt in meine Scham und meinen Schmerz.
Ich blieb in meinem Zimmer. Als Dad mich fragte, was nicht stimmte, sagte ich: »Nichts.« Als M o m mit mir zum Arzt wollte, sagte ich Nein. Danach ließen sie mich in R u h e . Ich glaube, sie wussten, dass bei dem, was mit mir nicht stimmte, kein Arzt helfen konnte. Niemand konnte das.
Justin rief sechsmal an. Dreimal am ersten Tag, zwei mal am zweiten und einmal am dritten. Meine Mutter nahm die Anrufe entgegen.
Ileana rief nie an.
Am Freitag sagte Dad: »Cody, entweder gehst du heute in die Schule oder ich gehe mit dir ins Kranken haus.«
»Es wäre Zeitverschwendung«, gab ich zurück.
»Was davon? Die Schule oder das Krankenhaus?«, fragte Dad.
»Beides«, antwortete ich. »Können wir nicht nach Hause zurück?«
Er kam in mein Zimmer und setzte sich auf mein Bett.
»Nein, Cody, sosehr ich es auch möchte - ich glaube, das können wir nicht«, sagte er.
Ich hob den Kopf. »Du meinst, du willst nach Kalifor nien zurück?«
»Es ist auch mein Zuhause.« Er seufzte. »Jeden Morgen wenn ich aufstehe und aus dem Fenster blicke und im Hof diesen widerlichen Schnee sehe, würde ich mich am liebsten umbringen.«
»Warum gehen wir dann nicht zurück?«, fragte ich.
»Wegen meiner Karriere«, sagte Dad. »Ich war in Ka lifornien in einer Sackgasse angekommen. Du weißt, dass ich bei Billings, Billings und Billings nicht glücklich war, aber du weißt nicht alles über die Gründe. Es war nicht nur deshalb, weil sie mich nicht befördern wollten.