Ich ging in die Bibliothek und wartete, dass Justin mit seiner Büchereinräumerei fertig wurde. Ich schnappte mir, aus keinem bestimmten Grund, ein Exemplar von Dracula und blätterte es durch. Ich hatte das Buch im Winter gelesen und mich seither die ganze Zeit gefragt, warum Stoker alles so falsch dargestellt hatte. Jenti hatten sich mit ihm angefreundet, ihn ins Vertrauen gezogen.
Vielleicht in der Hoffnung, er würde ein Buch schrei ben, das sie der Welt so zeigte, wie sie wirklich waren —
als erster Schritt heraus aus den Schatten. Vielleicht.
Aber er hatte all die Dinge, die sie zu etwas Mächtigem und Besonderem machten, genommen und in etwas Bö ses verwandelt. Warum? Was ergab das für einen Sinn?
Ich fragte mich, ob er bloß neidisch gewesen war.
Als Justin fertig war, kam er herüber und holte mich ab.
»Wiedersehn, Jungs«, brüllte Ms Shadwell hinter uns her. Für eine Bibliothekarin war sie echt laut.
»Komm schon«, sagte Justin. »Ich möchte zum Bach runter.«
Also spazierten wir in der Spätnachmittagssonne über den Campus und zum ersten Mal, seit ich nach Massa chusetts gekommen war, hatte ich das Gefühl, irgendwo hinzugehören. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass ich es mochte. Aber seit jenem kalten Tag im Januar, als Dad und ich hier vorgefahren waren, hatte sich so viel ereignet, dass ich jetzt Teil dieser Schule war, ob es mir passte oder nicht. Natürlich half es, dass das Schuljahr fast vorbei war und ich erst in drei Monaten wieder hierher zurückkehren würde.
Die Bäume entlang des Baches machten ihn jetzt zu einem Fluss, auf den Schatten fiel. Jedenfalls war es für einen Kalifornier ein »Fluss«. Die grüne Dunkelheit war wunderschön und das Licht, das seinen Weg bis zur Uferböschung fand, war so weich wie - nun, so weich wie Ileanas Lippen auf meiner Wange.
»So ist es besser«, sagte Justin und nahm die dunkle Brille ab, die er an sonnigen Tagen nach wie vor trug, wie die meisten Jenti.
Wir spazierten am Bach entlang, ich den Blick in den Bäumen und Justin die Augen auf den Boden gerichtet, um zu sehen, wo wir hintraten, bis wir zu einem großen Felsen kamen. Er war so groß, dass der Bach eine Bie gung machen musste, um herumzukommen. Oben war er abgeflacht und die Schatten der Bäume warfen Muster auf ihn.
Ganz oben war Ileana.
»Hallo«, sagte sie.
»He«, erwiderte ich und versuchte cool zu klingen.
»Wieso hast du keine Klavierstunde?«
»Mrs Warrener hat meine Stunde auf morgen ver schoben«, antwortete Ileana. »Was macht ihr dort un ten?«
»Weiß nicht.« Justin zuckte mit den Achseln. »Wir hatten einfach Lust hierherzukommen.«
»Vielleicht wollt ihr ja zu mir heraufklettern«, sagte Ileana.
Also kletterten wir auf den Felsen, saßen nebeneinan der und betrachteten den Bach. Er war jetzt anders als im Januar, als Gregor und seine Gang versucht hatten Justin hineinzuwerfen. Er war breit und schnell und klang glücklich. Durch die Sonnenstrahlen auf seiner Oberflä che sah es so aus, als würde er lächeln.
Justin kroch zur Felskante vor und blickte hinunter.
»Ich frage mich, wie es wohl wäre, darin zu schwim men«, sagte er.
»Geht nicht. Er ist zu flach«, erwiderte ich.
»Weiter unten wird er tiefer«, gab Justin zurück. »Bis später! Wird nicht lang dauern.«
Und er flitzte den Felsen hinunter und war wie der Blitz verschwunden.
Jetzt war ich mit Ileana allein. Und sie mit mir.
Eine Weile saßen wir einfach nebeneinander da, ohne uns anzuschauen.
Schließlich sagte sie: »Ich habe Justin gebeten dich hierherzubringen.«
»Oh«, sagte ich.
»Ich wollte dir sagen, dass ich mich entschuldige. Ich hätte wegen Gregor nicht so wütend auf dich sein sollen.
Ich hätte wissen sollen, dass du bloß Justin verteidigt hast.
Du würdest dich nie hinter einem Mal verstecken, mit dem ich dich gezeichnet habe. Es war falsch von mir, zu denken, du würdest je etwas derart Schändliches tun.«
»Nein, du hast Recht gehabt, ich hab mich daneben benommen«, entgegnete ich. »Aber ich habe mich bei Gregor entschuldigt.«
»Das habe ich gehört«, erwiderte sie. »Natürlich hast du das.« Sie seufzte und fuhr fort. »Du hast so viel getan, Cody. Du hast Justin immer wieder geholfen und dadurch hast du jetzt allen Jenti geholfen weniger Angst zu haben. Für uns ist Wasser voller Schrecken. Wenn sogar ein paar von uns darin leben können, dann scheint alles möglich zu sein. Ich glaube, du musst der großartigste Gadjo-Freund sein, den die Jenti je hatten. Ich bin es nicht wert, diese Frage zu stellen. Aber ... ist es möglich, dass wir vielleicht wieder Freunde werden?«
Und genau da, auf diesem Felsen, mit dem vorbeiflie ßenden Bach und den Fröschen, die sangen, und den Schatten, die das Licht auf dem allerschönsten Gesicht der Welt kommen und gehen ließen, erlebte ich den bis her wunderbarsten Moment meines Lebens. Er war so vollkommen, dass ich nicht einmal sprechen wollte. Ich wollte mich nicht bewegen. Ich wollte nicht, dass er zu Ende ging.
Aber ich musste etwas tun, um es sie wissen zu lassen.
Also küsste ich sie. Und diesmal traf ich nicht daneben.
»Es gibt da etwas, was du besser wissen solltest«, sagte ich. »Das Zeug, das ich dir aus meinem Gedicht vorge lesen habe und das du so witzig gefunden hast — es war nicht witzig gemeint. Besser kann ich es nicht. Ich bin einfach kein Dichter.«
Ileana schüttelte den Kopf. »Dieses Buch, das du mir zum Geburtstag geschenkt hast, war ein Gedicht«, sagte sie. »Ein sehr schönes. Und das gilt auch dafür, dass du zu Justin gegangen bist und ihm dein Blut gegeben hast. Das war es, was Vasco für Anaxander getan hätte.«
Und sie küsste mich zurück.
Wir blieben einfach dort, wir zwei, bis die Sonne uns verließ und der Felsen zu erkalten begann. Dann kam Justin zurück und wir spazierten zwischen den Bäumen hindurch wieder zum Campus.
Ileana und ich hielten uns noch immer an den Händen.
Im Wohnheim und im Schülerklub waren die Lichter an, doch die anderen Gebäude waren dunkel. Ihre ho hen, fahlen Dächer hoben sich gegen dieses besondere Licht ab, das noch immer ganz oben am Himmel stand und wie es nur im Frühling zu sehen ist.
Charon kam aus dem Schatten auf uns zu und seine Augen funkelten. Sein Schwanz machte eine Wedelbe wegung, die ich noch nie gesehen hatte.
Aber Ileana musste sie kennen, denn sie sagte: »Ja, es geht uns gut, Charon. Wir waren am Bach unten. Jetzt gehen wir nach Hause. Gute Nacht.«
Charon ging ein kleines Stück weg, hielt aber mit uns Schritt.
»Ist er sauer?«, fragte ich.
»Überhaupt nicht«, antwortete Ileana. »Es ist nur so, dass Charons wirkliche Arbeit mit Einbruch der Dunkel heit anfängt, wenn er die ganze Nacht lang den Campus bewacht. Er möchte, dass wir in Sicherheit sind, wenn wir ihn verlassen. Er ist sehr verantwortungsbewusst.
Wölfe sind oft so.«
Justin ging ein Stückchen voraus. Absichtlich, darauf hätte ich wetten können. Guter alter Justin. So einen Streich konnte er mir jederzeit wieder spielen.
»Im Augenblick muss das der wunderbarste Platz auf der Welt sein«, sagte ich mit leiser Stimme.
»Wunderbarer als Kalifornien?«, fragte Ileana.
»Wunderbarer als irgendwo.«
Wir standen da und hielten uns eine halbe Ewigkeit in den Armen.
Charon ließ sich ein kleines Stück entfernt nieder. Ich hatte das Gefühl, dass er unsere Privatsphäre beschützte.
»Cody, du musst wissen, nicht alle Jenti sind mit den Veränderungen, die jetzt vor sich gehen, glücklich«, sagte Ileana. »Die Jüngeren ja, aber die Alteren haben Angst.
Sie wissen nicht, wo es enden wird.«
»Du meinst zum Beispiel deine Eltern?«, fragte ich.