»Mr Mach«, sagte ich dann. »Nur damit Sie es wis sen — ich schaffe diese Aufgabe auf keinen Fall. In meiner früheren Schule waren wir gerade bei Algebra.«
Er lächelte und diese wunderbaren Augen sahen mich an.
»Sie können es versuchen. Wenn Sie es versucht ha ben, werden Sie mehr wissen als jetzt. Machen Sie sich deshalb keine Sorgen.« Er klopfte mir auf die Schulter.
»Es ist schön, Sie in meiner Klasse zu haben.«
Also ging ich. Ich musste mich selbst daran erinnern, dass ich sowieso durchfallen wollte, zumindest solange ich es schaffte, dafür nicht an die gute alte Immerwäh rende geschickt zu werden. Es sah so aus, als würde ich keinen Ärger kriegen.
Die Aula war voller Kids, aber es war abartig ruhig.
Kaum jemand redete. Und wenn doch, dann flüsternd.
Niemand drängelte, niemand rannte. Sie gingen bloß diesen wunderschönen Flur entlang zu ihren nächsten Klassen und traten durch diese stillen Türen.
Charon brachte mich zu einem Raum am anderen Ende der Aula. Ich sah auf meinen Stundenplan. Eng lisch. Shadwell.
Als ich eintrat, kam ein Kasten von einem Mann mit einem riesigen Glatzkopf quer durch die Klasse auf mich zugesprungen und packte mich bei der Hand.
»Elliot! Ich freue mich dich kennenzulernen, mein Junge! Setz dich da drüben neben Antonescu. Schau dir dein Pult an. Ich denke aber, du wirst alles an seinem Platz finden. Übrigens — irgendwie verwandt mit T. S.
Eliot? Nein, wohl nicht. Wie ich sehe, schreibst du dich anders. Trotzdem — ein großer Dichter, was? Verzweif lung, Verzweiflung, aber auch Schönheit. >Ich hätte ein Paar gezackter Scheren werden sollen/Hastig fliehend über das Parkett einsamer Meere ...< Großartiges Zeugs, das. Und Pound. O mein Gott, Pound! Hast du die Can tos schon gelesen?«
Er schubste mich irgendwie auf meinen Stuhl.
»Also, lass mich ganz kurz erklären, was in diesem Jahr von dir erwartet wird. Wir alle schreiben etwas. Ein Theaterstück, einen Roman, einen Gedichtband, viel leicht ein Epos. Ich selbst mag Epen sehr. Hab bis jetzt siebzehn davon geschrieben. Sind meiner Frau gewid met. Sie liebt so was. Backt mir jedes Mal eine Lasagne, wenn ich eins vollendet habe. Muss dich mal am Abend zu einem Festgelage einladen. Aber genug davon. Die Hauptsache ist: Du kannst schreiben, wofür auch immer du dich entscheidest, aber es muss beendet und angemes sen lang sein. Sagen wir — durchschnittlich dreihundert Seiten für einen Roman oder ein Epos, ein abendfüllen des Theaterstück, etwas in der Art. Aber ich sag dir jetzt was — da du in der Mitte des Schuljahrs anfängst, erlaube ich dir, ein paar deiner früheren Werke umzuarbeiten.
Was genau schreibst du so?«
»Gar nichts«, murmelte ich.
»Sachbücher?«, brüllte Mr Shadwell. »Nun, warum nicht? Geschichtsbücher, Biografien, so was in der Art.
Aber versuch ja nicht, mich mit irgendeiner wissen schaftlichen Abhandlung abzuspeisen. Ist nicht gerade meine Stärke. Trotzdem - wenn du mir was über tekto nische Plattenverschiebung, Radioastronomie oder Palä ontologie der Trias anbietest, werde ich mich schon ir gendwie durchfinden.«
»Nein, ich sagte >Gar nichts<«, gab ich zurück.
»Ah«, meinte Shadwell. »Wasserball, nehme ich an?«
Ich nickte und hielt ihm meinen Stundenplan hin.
»Schon gut. Vergiss alles, was ich gesagt habe«, sagte Mr Shadwell und gab mir meinen Stundenplan zurück.
Noch ein tiefer gongartiger Ton war zu hören. »Zeit für den Unterricht«, meinte Mr Shadwell. »War nett sich mit dir zu unterhalten, Elliot.«
Er wandte sich ab und ich hörte, wie er vor sich hin murmelte: »Wasserball. Warum haben sie mir das nicht gleich gesagt?« Dann tänzelte er zu einem Podest vor, auf dem ein riesiger gebundener Stapel Papier lag. Er war so dick wie drei Telefonbücher.
»Es gibt in der angelsächsischen Prosodie bestimmte Prinzipien, die ich für jene unter euch, die sich mit dem Schreiben von Poesie beschäftigen, für absolut unent behrlich halte«, sagte Mr Shadwell. »Und sie sind für je den Schriftsteller von Nutzen. Ich fand sie in meinem letzten vollendeten Werk - Quetzal, das, wie ihr wisst, den Lauf der mexikanischen Geschichte von der Errich tung von Teotihuacán um hundertfünfzig nach Christus bis zur Revolution von neunzehnhundertneunundzwan zig verfolgt - gut verkörpert. Ich werde also damit fort fahren, euch einen Abschnitt daraus vorzulesen, und da bei die Punkte veranschaulichen, die ich gerne erläutern würde.«
Er öffnete das Ding in der Mitte und begann zu lesen.
Ich hatte keine Ahnung, w o r u m es ging. Ich schnapp te etwas von einer Schlacht auf, was spannend klang, aber ich konnte nicht herauskriegen, wer wem was antat, und dann hörten die Kämpfe auf und alle begannen zu leiden.
Ich gab den bloßen Versuch, zuzuhören, auf, obwohl das bei dem Gebrüll schwierig war.
Auch Charon schien kein so großes Interesse zu zei gen wie in Mr Machs Klasse. Er drehte Mr Shadwell den R ü c k e n zu und rollte sich, den Schwanz über die Nase gelegt, zusammen. Ich war mir ziemlich sicher, dass er ein Schläfchen hielt.
Ich untersuchte mein Pult. Es war dem in Mr Machs Klasse sehr ähnlich. Es gab ein großes Buch - Einige Sternstunden englischer Literatur, ausgewählt von Norman Per-cival Shadwell -, ein Heft und einen Kugelschreiber. Der Unterschied bestand darin, dass jede Schublade dieses Pults mit Papier vollgestopft war — und es gab fünf Schubladen.
Was schrieben all diese Kids? Ich hatte nie in meinem Leben etwas Längeres als eine Geburtstagskarte geschrie ben — es sei denn, ich wurde dazu gezwungen.
Ich blickte mich um. Die anderen Kids sahen so aus, als würden sie zuhören. Himmel, die nahmen das wirk lich ernst. Ich entdeckte den kleinen braunhaarigen Kerl aus der Mathestunde, der sich wie verrückt Notizen machte. Dann sah ich auf das Pult neben mir.
»Setz dich neben Antonescu«, hatte Mr Shadwell ge sagt. N u n , Antonescus Vorname war Ileana und sie war hinreißend. Sie hatte blasse Haut und langes schwarzes Haar wie die meisten an der Vlad Dracul, aber sie war klein und zart. Ihre Augen waren beinahe so gelb wie die von Charon. Wenn sie sich bewegte, war das so, als würde ein Vogel seine Flügel ausbreiten, selbst wenn ihre Finger nur den Kugelschreiber umfassten.
War sie Hamilton Antonescus Tochter? Das könnte von Vorteil sein. Wenn unsere Väter zusammenarbeite ten und ihr Vater mir schon behilflich gewesen war, an die Schule aufgenommen zu werden, würde sie vielleicht meine Freundin sein wollen. Ich konnte eine brauchen.
Also schickte ich ihr ein Zettelchen.
Hallo! Ich bin Cody Elliot. Ich wette, du bist Hamilton Antonescus Tochter, stimmt's? Mein Dad arbeitet mit deinem zusammen.
Ich ließ den Zettel auf ihr Pult gleiten, als Mr Shad well den Kopf senkte, um Anlauf für neuerliches, beson ders heftiges Gebrüll zu nehmen, aber sie bemerkte es nicht. Der Zettel lag einfach da, während sie, das Kinn auf die verschränkten Hände gestützt, Shadwell ansah.
Jedes Mal wenn er mit Vorlesen aufhörte, um irgend was von der Bedeutung dieser Passage für die angelsäch sische Prosodie zu schreien und wie toll das von ihm Ge schriebene das zeige, nahm sie ihren Kugelschreiber und machte ein paar Notizen, legte ihn dann hin und richtete ihre wunderschönen Augen wieder auf Shadwell.
Als die Stunde aus war, stand Ileana auf und war schon am Hinausgehen, als sie den Zettel zum ersten Mal be merkte. Sie las ihn, warf mir einen eigenartigen Blick zu, steckte den Zettel in ihre Tasche und spazierte hinaus.
Mir wurde zum ersten Mal bewusst, dass bis jetzt keins der Kids mit mir geredet hatte. U n d dabei blieb es auch -
in Sozialkunde, wo Mr Gibbon, der auch wie einer aussah (wie ein Gibbon, meine ich), geschlagene fünfundfünfzig Minuten über den Salzhandel in Europa während der frü hen Karolingerzeit redete und die Hausaufgabe darin be stand, gesalzenes Essen in den Unterricht mitzubringen.