Schließlich erklärte sie uns: »Wie ihr wisst, ist der Stern Beteigeuze vier- bis sechshundert Lichtjahre von uns entfernt. Niemand ist sich da ganz sicher. Ihr denkt wahrscheinlich, dass das weit genug ist. Aber er ist ein Roter Riese und wird in einer dieser Äonen eine Su pernova werden. Er kann nichts dafür, es ist bloß das, was solche Sterne eben machen. Explosion, Kollaps, Ende der Geschichte. Aber blicken wir den Tatsachen ins Auge — wenn das passiert, könnten wir getoastet werden.
Ich möchte jedenfalls, dass ihr bis morgen berechnet, wie lange es noch braucht, bis das mit Beteigeuze passiert, wie lange es danach dauern wird, bis die ersten Auswir kungen auf der Erde spürbar werden, und wie weitrei chend diese Auswirkungen sein werden. Und vergesst nicht, den Van-Allen-Gürtel in eure Berechnungen mit einzubeziehen. Dann also bis morgen!«
Ich blätterte mein Physiklehrbuch durch. Die Kapitel über Astronomie hätten genauso gut auf Schwedisch sein können.
Ich schüttelte den Kopf.
»Mann«, sagte ich zu Charon. »Ich würde es hier nicht mal schaffen, wenn ich wollte.«
Danach war Freistunde. Ich ging zum Schülerklub, wo ich mit Charon an der Wand gelehnt dastand und zu sah, wie ein R a u m voller Leute mich ignorierte. Als es schließlich an der Zeit war, führte der Wolf mich zur Turnhalle.
Die Schwimmhalle nahm einen ganzen Flügel der rie sigen Turnhalle ein und hatte einen eigenen Eingang. Als ich eintrat, bemerkte ich, dass es keine Verbindung zwi schen ihr und dem restlichen Turnhallenkomplex gab.
Nur von außen sah es so aus, als wäre alles ein einziges Gebäude.
Es gab ein Schwimmbecken von olympischen Ausma ßen und ganz oben, nahe bei der Decke über den Um kleideräumen, war eine Zuschauertribüne. Sechs Typen in schwarzen Badehosen mit roten Streifen vorne drauf lungerten in der Nähe der Sprungbretter herum. Es wa ren Brian Blatt und die anderen Jungs, mit denen er zu Mittag weggegangen war. Sie sahen mich bloß von der anderen Seite des Beckens her an.
Charon führte mich zum Umkleideraum. In einer Ecke gab es eine Art Büro. Dort standen ein vergammel ter Schreibtisch und ein Drehstuhl, auf dem ein giganti scher Fettkloß saß. Das musste wohl Trainer Underskin ker sein. Er schlief, neben sich eine Kiste Bier. Sie war leer.
Charon knurrte. Der Trainer machte ein Auge auf.
»Was willste denn?«
Charon knurrte noch einmal.
»Oh. Ja. Sie hamma gesagt, dass de kommn würdst, du Flasche. Okay, Wolf, ab hier übernehm ich.«
Er setzte seine Füße ab, fand Boden darunter und stieß sich vom Linoleum ab.
»Auf geht's, du Flasche!«, sagte er. »Muss dir deine Ausrüstung gebn.«
Ich folgte ihm in die Tiefen des Umkleideraums. Es gab dort Hunderte Spinde, aber es sah so aus, als wären die meisten nie benutzt worden. Nur ein paar am hinte ren Ende hatten Vorhängeschlösser. Der Rest stand offen und war leer.
Underskinker starrte auf die Spinde, als versuchte er sich zu erinnern, warum wir überhaupt hier waren.
Dann wählte er einen aus.
»Sechs-neun-sechs is deiner«, sagte er. »Vergiss es nich!«
»Sechs-neun-sechs«, erwiderte ich.
»Also, mach'n auf«, sagte Underskinker. »Ich werd nich alles für dich erledigen, Himmel!«
In Sechs-neun-sechs waren eine schwarze Tasche mit einem roten Streifen und alles, was ich brauchte: Bade hose, Seife, Handtücher.
»Zieh dir ne Badehose an und dann ab ins Wasser«, sagte Underskinker und machte sich auf den Weg zurück in sein Büro.
»Muss ich nicht zuerst getestet werden oder irgendwas in der Art?«, rief ich ihm hinterher.
»Lass mich in Frieden«, antwortete er, ohne sich um zudrehen. »Hab im Büro zu tun.«
Ich zog mich um und ging zum Becken.
Die Typen, die ich beim Hineinkommen gesehen hatte, lungerten noch immer dort herum. Charon war fort.
Ein paar Minuten lang standen wir einfach da und sa hen uns an. Dann ging ich zu ihnen hinüber.
»He«, sagte ich.
Keine Antwort.
»Na, wie geht's?«, machte ich noch einen Versuch.
Nichts.
»Ich bin Cody Elliot«, sagte ich.
»Und?« Das war Brian Blatt.
Also standen wir alle einfach eine Zeit lang herum.
Endlich fragte mich ein dürrer, rothaariger Kerl, bei dem ein Elternteil ganz offensichtlich ein Wiesel war:
»Was hat Underskinker denn gesagt?«
»Worüber?«, fragte ich.
»Na, was wohl - was hat er gesagt, nachdem er dir dei nen Spind gegeben hat?«, brüllte das Halbwiesel.
»Er sagte: >Lass mich in Frieden, hab im Büro zu tun.<«
Die Jungs begannen sich abzuklatschen und zu brül len.
»Keine Schule heute!«
»Mann, wieder mal davongekommen!«
»Nix mit Schwimmen!«
»Hurra!«
Sie machten sich auf den Weg zum Umkleideraum und klopften sich dabei gegenseitig auf den Rücken. Ich folgte ihnen.
Sie begannen sich alle anzukleiden und schrien he rum, dass sie nicht schwimmen gehen müssten.
»War's das?«, fragte ich Brian.
»War's was?«, fragte er zurück.
»War das das Training?«, sagte ich.
Er legte mir seine Vorderpfote auf die Schulter. »Schau mal, du Flasche. Wenn du ins Wasser willst, geh ins Was ser. Wenn du nach Hause willst, geh nach Hause. Wenn du zur Hölle willst, geh zur Hölle. Es schert keinen.
Mich schert's nicht. Uns schert's nicht. Underskinker schert's nicht. Kapiert?«
Nein. Ich kapierte es nicht. Aber ich kapierte, dass ich von Brian keine bessere Erklärung kriegen würde als diese.
Ich machte kehrt und betrachtete das Schwimmbe cken. Es war grün und riesig und gehörte mir ganz allein, wenn ich das wollte.
Zum Teufel damit! Ich liebe Schwimmen.
Ich ging zum niedrigsten Sprungbrett und tauchte ein.
Ich schwamm ans Ende des Beckens und wieder zurück.
Es fühlte sich großartig an - die Wärme in meinem Kör per, schwimmen, etwas unter Kontrolle zu haben, mich, meinen eigenen Körper, im Wasser. Es war wie Kalifor nien. Ich fühlte mich so wohl, dass ich am liebsten ge weint hätte.
Stattdessen schwamm ich eine Länge nach der an deren, bis ich alle Tränen und einen großen Teil der Angst, die ich den ganzen Tag über empfunden hatte, weggeschwommen hatte. Vielleicht war das gar kein so schlechter Ort, wenn ich jeden Schultag so wie heute beenden konnte.
Als ich aus der Schwimmhalle hinausspazierte, war ich beinahe glücklich.
Wie man zu einem gezeichneten Gadjo* wird, ohne es zu beabsichtigen
Charon war fort, okay. Ich sah ein paar seiner großen Pfotenabdrücke im Matsch ein Stück von der Turnhalle entfernt. Er war mit mir fertig.
Es war jetzt das Ende des Schultages und überall waren Kids. Einige gingen im Schülerklub ein und aus, einige wurden abgeholt.
Ich sah eine Reihe schwarzer Stretchlimousinen, auf deren Seite V L A D - D R A C U L - M A G N E T - S C H U L E
stand. Kids stellten sich davor an und warteten aufs Ein steigen.
Ich sah einen Haufen anderer Autos, wunderschöne Autos; Autos, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte, alle mit Chauffeuren. U n d in jedes stiegen nur ein oder zwei Kids ein.
Wow. Dad wird nie wieder mit seinem Mercedes zufrieden sein.
Hinter mir ertönte ein Schrei.
Es war der Schrei eines Jungen, aber hoch und kla gend. Wer auch immer ihn ausstieß, hatte wirklich Angst.
Ich blickte mich um und entdeckte eine große, dunkle Mauer von Kids, die etwas anstarrten, und ging zu ihnen hinüber.