Das Bett war nicht mehr mit einer Tagesdecke aus Chenille zugedeckt, ja es war nicht einmal bezogen. Joey war aber viel zu müde und benommen, um nach Bettwäsche zu suchen.
Deshalb legte er sich in Hemd und Jeans auf die nackte Matratze und zog nicht einmal seine Schuhe aus. Das leise Quietschen der Federn war ein vertrautes Geräusch in der Dunkelheit.
Trotz seiner Erschöpfung wollte Joey nicht schlafen. Die halbe Flasche Whisky hatte weder seine Nerven beruhigt noch seine Ängste gelindert. Er fühlte sich sehr verletzlich. Im Schlaf wäre er völlig wehrlos.
Trotzdem mußte er versuchen, ein wenig auszuruhen. In etwas mehr als zwölf Stunden würde er seinen Dad beerdigen, und er brauchte Kraft für das Begräbnis, das alles andere als leicht für ihn sein würde.
Er trug den Stuhl zur Tür und schob die Rückenlehne unter die Klinke - eine simple, aber wirksame Barrikade.
Sein Zimmer befand sich im ersten Stock. Das Fenster war von draußen schwer zu erreichen. Außerdem war es geschlossen.
Selbst wenn er tief schlafen sollte, konnte jetzt niemand mehr das Zimmer betreten, ohne so viel Lärm zu machen, daß er aufwachen würde. Niemand - nichts.
Wieder im Bett, lauschte er dem unablässigen Prasseln des Regens auf das Dach. Wenn jemand in diesem Moment durchs Haus schlich, konnte Joey ihn nicht hören, denn der Lärm des Gewitters bot einen perfekten Schutz.
»Shannon« murmelte er, »du wirst mit zunehmendem Alter immer verrückter.«
Wie die feierlichen Trommeln bei einem Begräbnis, so geleitete der Regen Joey in die tiefere Dunkelheit des Schlafs.
Im Traum teilte er sein Bett mit einer toten Frau, die ein durchsichtiges blutbeschmiertes Gewand trug. Von dämonischer Energie beseelt, legte sie ihm plötzlich eine Hand aufs Gesicht. Möchtest du mit mir schlafen? fragte sie. Niemand wird je etwas davon erfahren. Nicht einmal ich könnte als Zeugin gegen dich auftreten. Ich bin nicht nur tot, sondern auch blind. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, und er sah, daß sie keine Augen mehr hatte. Aus den leeren Augenhöhlen gähnte ihm die tiefste Dunkelheit entgegen, die er je gesehen hatte. Ich gehöre dir Joey. Ich gehöre dir.
Er fuhr nicht mit einem Schrei aus dem Schlaf, sondern mit einem kläglichen Wimmern. Auf der Bettkante sitzend, vergrub er sein Gesicht in den Händen und schluchzte leise.
Obwohl ihm von zuviel Alkohol schwindlig und übel war, wußte er, daß seine Reaktion auf den Alptraum nicht normal war. Zwar hatte er rasendes Herzklopfen, aber seine Trauer war viel größer als seine Angst. Dabei war die Tote keine Frau, die er jemals gekannt hatte, sondern nur ein Phantom, geboren aus zu wenig Schlaf und zuviel Jack Daniel’s. In der vergangenen Nacht, erschüttert über die Nachricht vom Tod seines Vaters und besorgt über die bevorstehende Fahrt nach Asherville, war er nur für wenige Stunden eingedöst. Die natürliche Folge war, daß jetzt Monster seine Träume bevölkerten. Die augenlose Frau war nur ein grotesker Spuk gewesen. Trotzdem lastete die Erinnerung an sie zentnerschwer auf seiner Seele, und er hatte unerklärlicherweise das niederschmetternde Gefühl, einen unersetzlichen Verlust erlitten zu haben.
Dank der Leuchtziffern seiner Uhr konnte er sehen, daß es halb vier war. Er hatte weniger als drei Stunden geschlafen.
Die Dunkelheit preßte sich immer noch ans Fenster, und endlose Regenströme zerteilten die Nacht.
Er stand vom Bett auf und ging zum Schreibtisch, wo die halbvolle Flasche Jack Daniel’s stand. Ein kleiner Schluck konnte nicht schaden. Irgendwie mußte er die Zeit bis zum Tagesanbruch überstehen.
Während er die Flasche aufschraubte, verspürte er einen heftigen Drang, zum Fenster zu gehen. Er fühlte sich magisch davon angezogen, widerstand jedoch, weil er absurderweise befürchtete, hinter der regennassen Scheibe die tote Frau zu sehen, ein Stockwerk über der Erde schwebend, mit wirren blonden Haaren, pechschwarzen leeren Augenhöhlen, in einem durchsichtigen Gewand, die Arme ausgestreckt, so als würde sie ihn stumm anflehen, das Fenster zu öffnen und mit ihr ins Unwetter hinaus zu fliegen.
Überzeugt davon, daß sie tatsächlich wie ein Geist dort draußen schwebte, traute er sich nicht einmal, aus dem Augenwinkel heraus einen Blick auf das Fenster zu werfen. Sie könnte selbst den flüchtigsten Blickkontakt als Einladung auffassen, zu ihm zu kommen. Wie ein Vampir würde sie an die Scheibe klopfen und um Einlaß bitten, aber ohne Einladung konnte sie seine Schwelle nicht übertreten.
Das Gesicht von dem rechteckigen Rahmen abgewandt, kehrte er zum Bett zurück, die Flasche in der Hand.
Er frage sich, ob er nur betrunkener als sonst war oder aber den Verstand verlor.
Zu seiner eigenen Überraschung schraubte er die Flasche wieder zu, ohne einen Schluck getrunken zu haben.
3
Morgens hörte es auf zu regnen, aber der Himmel blieb wolkenverhangen und düster.
Joey hatte keinen Kater. Er wußte genau, wieviel Alkohol er vertragen konnte, ohne unter unangenehmen Nachwirkungen zu leiden. Und er schluckte jeden Tag mehrere Vitamin-B-Tabletten, um zu ersetzen, was der Whisky zerstörte; extremer Vitamin-B-Mangel war die Hauptursache für einen Kater. Er kannte alle Tricks. Sein Trinken war methodisch und durchorganisiert - er betrieb es so, als wäre es sein Beruf.
In der Küche fand er etwas zum Frühstücken - eine trockenes Stück Kuchen und ein halbes Glas Orangensaft.
Er duschte und zog seinen einzigen Anzug mit weißem Hemd und dunkelroter Krawatte an. Den Anzug hatte er seit fünf Jahren nicht mehr getragen, und er war ihm jetzt viel zu weit. Auch der Hemdkragen war eine Nummer zu groß. Er sah wie ein Fünfzehnjähriger aus, der sich die Kleidung seines Vaters ausgeliehen hatte.
Die endlose Alkoholzufuhr beschleunigte offenbar seinen Stoffwechseclass="underline" Er verbrannte alles, was er aß und trank, so schnell, daß er jedes Jahr am 31. Dezember ein Pfund weniger wog als am 1. Januar. In 150 Jahren würde er sich einfach in Luft auflösen.
Um zehn Uhr fuhr er zu Devokowskis Bestattungsinstitut in der Main Street. Es war geschlossen, aber Joey wurde von Mr. Devokowski erwartet.
Louis Devokowski war seit 35 Jahren der Bestattungsunternehmer von Asherville. Er entsprach nicht im geringsten dem Bild, das Filme und Comics von Männern seines Berufsstandes vermittelten - bleich, mager, mit gebeugten Schultern. Ganz im Gegenteiclass="underline" Er war stämmig, hatte ein rosiges Gesicht und dunkle Haare ohne jedes Grau -so als wäre die Arbeit mit Toten ein Rezept für langes Leben und Vitalität.
»Joey!«
»Mr. Devokowski!«
»Es tut mir ja so leid.«
»Mir auch.«
»Die halbe Stadt hat ihm hier gestern abend die letzte Ehre erwiesen.«
Joey schwieg.
»Alle haben deinen Vater geliebt.«
Joey sagte nichts, weil auf seine Stimme kein Verlaß war.
»Ich bringe dich jetzt zu ihm«, sagte Devokowski.
Die Aufbahrungshalle war ein pietätvoller Raum -burgunderroter Teppich, burgunderrote Vorhänge, beige Wände, gedämpftes Licht. Große Rosenbuketts verströmten einen süßlichen Duft.
Der Sarg war aus Bronze, mit Griffen und Beschlägen aus glänzendem Kupfer. Joey hatte Mr. Devokowski telefonisch instruiert, das Beste zu nehmen. So würde P. J. es gewollt haben - und P. J. würde diesen Sarg ja auch bezahlen.
Joey näherte sich der Bahre so zögernd wie ein Mann, der im Traum befürchtet, sich selbst im Sarg liegen zu sehen.
Doch es war Dan Shannon, der in einem dunkelblauen Anzug friedlich dalag, auf cremefarbenes Satin gebettet. Die letzten zwanzig Jahre waren nicht freundlich mit ihm umgesprungen: Er sah so besorgt und erschöpft aus, daß man fast glauben konnte, er wäre über seinen Tod glücklich gewesen.
Mr. Devokowski hatte sich diskret entfernt. Joey war mit seinem Dad allein.