Joey saß in der letzten Reihe und hoffte, daß niemand ihn erkennen würde. Er hatte in Asherville keine Freunde mehr. Und ohne einen tiefen Schluck aus seinem Flachmann konnte er die zornigen und verächtlichen Blicke nicht ertragen, die ihn mit Sicherheit streifen würden - und die er zweifellos auch verdient hatte.
Mehr als 200 Personen wohnten der Messe bei, und Joey hatte den Eindruck, als wäre die Stimmung noch gedrückter als bei anderen Begräbnissen. Dan Shannon war allgemein beliebt gewesen, und viele würden ihn vermissen.
Viele Frauen wischten sich mit ihren Taschentüchern die Tränen von den Wangen, aber alle Männer hatten trockene Augen. - Asherville weinten Männer nie in der Öffentlichkeit -und sogar heimlich nur sehr selten. Obwohl seit über 20 Jahren niemand mehr in den Bergwerken arbeitete, stammten sie doch alle von Generationen von Bergleuten ab, die jederzeit mit Tragödien rechnen mußten, mit dem Verlust geliebter Menschen oder guter Freunde durch Explosionen, Verschüttungen oder Lungenkrankheiten. Ohne Stoizismus hätten diese Menschen nie überleben können.
Behalte deine Gefühle für dich. Belaste deine Freunde und deine Familie nicht mit deinen Sorgen und Ängsten. Steh alles allein durch. Das war die Weltanschauung von Asherville, und diese Wertvorstellungen hatten sogar noch mehr Gewicht als die Moral, die der zweitausend Jahre alte christliche Glaube lehrte und die jeder Priester von der Kanzel predigte.
Joey harte seit zwanzig Jahren keine Messe mehr besucht. Dieses Totenamt war - offenbar auf Wunsch der Gemeinde -eine klassische lateinische Messe, mit der ganzen Ausdruckskraft und Feierlichkeit, die verlorengegangen waren, als die Kirche sich in den 60er Jahren dem Zeitgeist anpaßte.
Die Schönheit der Messe rührte Joey nicht an, wärmte ihm nicht das Herz. Durch seine Lebensweise während der letzten zwanzig Jahre hatte er den Glauben verloren, und jetzt konnte er die Zeremonie nur noch äußerlich nachvollziehen, etwa so wie jemand, der ein schönes Gemälde durch das Galeriefenster betrachtet und wegen der Spiegelungen im Glas alles nur verzerrt und verschwommen sieht.
Die Messe war erhebend, aber es war eine kalte Schönheit. Wie Winterlicht auf glänzendem Stahl. Wie eine arktische Landschaft.
Von der Kirche fuhr Joey zum Friedhof, der auf einem Hügel lag. Das Gras war noch grün, mit Laub übersät, das unter seinen Füßen knisterte.
Sein Vater würde neben seiner Mutter beerdigt werden. Auf der zweiten Hälfte des Doppelgrabsteins war noch kein Name eingemeißelt.
Zum erstenmal am Grab seiner Mutter zu stehen und ihren Namen sowie das Todesdatum in Granit gemeißelt zu sehen, löste in Joey keine besondere Erschütterung aus. Es war nicht so, als würde er erst jetzt begreifen, daß sie wirklich tot war. Er war sich des Verlustes in den letzten sechzehn Jahren stets schmerzhaft bewußt gewesen.
Doch im Grunde hatte er sie schon vor zwanzig Jahren verloren, denn seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen.
Der Leichenwagen hielt auf der Straße, nicht weit vom Grab entfernt. Lou Devokowski und sein Assistent überwachten das Ausladen des Sarges.
Das offene Grab, das auf Dan Shannon wartete, war von einem etwa meterhohen Plastikvorhang umgeben, um sensiblen Trauergästen den Anblick der bloßen Erde an den Wänden des Grabes zu ersparen, einen Anblick, der sie brutal mit der düsteren Realität konfrontieren würde. Auch der ausgehobene Erdhügel war pietätvoll mit schwarzem Plastik verhüllt und mit Blumensträußen und Farnwedeln geschmückt.
So als wollte er sich selbst bestrafen, trat Joey dicht an die gähnende Grube heran und spähte über den Vorhang hinweg, um genau zu sehen, wohin sein Dad gleich verschwinden würde.
Auf dem Boden des Grabes, von loser Erde halb bedeckt, lag eine Leiche, in blutbeschmiertes Plastik gehüllt. Eine nackte Frau. Das Gesicht war nicht zu sehen, aber nasse blonde Haarsträhnen.
Joey taumelte rückwärts und prallte gegen andere Trauergäste.
Er bekam keine Luft. Seine Lungen schienen mit der Erde aus dem Grab seines Vaters verstopft zu sein.
Mit ernsten, feierlichen Mienen, die gut zum düsteren Himmel paßten, stellten die Träger den Sarg vorsichtig auf die Bretter über der Grube.
Joey wollte ihnen zurufen, daß sie den Sarg zur Seite schieben und in die Tiefe blicken sollten, wo die in Plastikfolie gehüllte Frau lag.
Er brachte kein Wort hervor.
Der Priester war eingetroffen. Seine schwarze Soutane und der weiße Chorrock flatterten im Wind. Die Beerdigung würde gleich beginnen.
Wenn der Sarg erst einmal in die zweieinhalb Meter tiefe Grube hinabgesenkt wurde, auf die tote Frau, wenn das Grab erst einmal zugeschüttet war, würde niemand je erfahren, daß sie dort lag. Für jene Menschen, die sie liebten und verzweifelt nach ihr suchten, würde sie immer spurlos verschwunden bleiben.
Wieder versuchte Joey zu sprechen, und wieder brachte er keinen Laut hervor. Er zitterte am ganzen Leibe.
Auf einer bestimmten Bewußtseinsebene wußte Joey, daß die Leiche auf dem Boden des Grabes nicht wirklich existierte. Sie war nur ein Phantom, eine Halluzination. Delirium tremens. Wie die Käfer die Ray Milland in Lost Weekend aus den Wänden kriechen sah.
Trotzdem wollte er schreien, und er hätte es getan, wenn es ihm nur gelungen wäre, den Würgegriff eisigen Schreckens abzuschütteln. Er wollte die Sargträger anbrüllen, daß sie ins Grab schauen sollten, obwohl er wußte, daß sie dort nichts finden und ihn für verrückt halten würden.
Aus dem offenen Grab stieg ein Geruch von feuchter Erde und Verwesung herauf, und das erinnerte ihn an all die kleinen Kreaturen, von denen es unter dem Rasen wimmelte - Käfer, Würmer und sonstige wuselnde Wesen, die er nicht benennen konnte.
Joey wandte sich vom Grab ab, schob sich durch die mehr als hundert Trauergäste, die von der Kirche zum Friedhof gekommen waren, stolperte zwischen den Grabsteinen hügelabwärts und suchte Zuflucht in seinem Mietwagen.
Plötzlich konnte er wieder tief Luft holen, und endlich fand er auch seine Stimme wieder. »O Gott, o Gott, o Gott!«
Offenbar verlor er den Verstand. Zwanzig Jahre Trunksucht hatten sein Gehirn wohl irreparabel geschädigt. Zu viele graue Gehirnzellen waren durch den Alkohol zerstört worden.
Nur indem er seinem Laster weiter frönte, konnte er einen klaren Kopf bewahren. Er holte den Flachmann aus der Sakkotasche.
Die bestürzten Trauergäste hatten seine hastige Flucht, die ihnen Gesprächsstoff für mindestens einen Monat liefern würde, mit großem Interesse verfolgt, und zweifellos starrten auch jetzt viele zu seinem Mietwagen hinüber, um nichts zu verpassen. Die Mißbilligung des Priesters nahmen sie dabei in Kauf.
Joey war es egal, was sie von ihm halten würden. Ihm war alles egal. Nur noch der Whisky zählte.
Aber sein Dad war noch nicht beerdigt. Er hatte sich geschworen, bis nach dem Begräbnis nüchtern zu bleiben. Im Laufe der Jahre hatte er unzählige Schwüre dieser Art gebrochen, aber aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen war dieses Versprechen ihm wichtiger als alle anderen.
Er schraubte die Flasche nicht auf.
Auf dem Hügel zwischen den ihres Laubs schon halb beraubten Bäumen, unter einem bleischweren Himmel, wurde der Sarg langsam in die teilnahmslose Erde hinabgelassen.
Die ersten Trauergäste gingen auseinander und blickten mit unverhohlener Neugier zu Joeys Wagen hinüber.
Als auch der Priester sich vom Grab entfernte, wirbelte ein heftiger Windstoß die welken Blätter auf; sie fegten über die Grabsteine hinweg, als wären irgendwelche böse Geister plötzlich aus unruhigem Schlaf erwacht.