Выбрать главу

Donner grollte zum erstenmal seit Stunden, und die restlichen Trauergäste eilten zu ihren Autos.

Während das Gewitter näher kam, entfernte ein Friedhofsarbeiter in gelbem Regenmantel die Plastikplane über dem Erdhaufen. Ein zweiter Arbeiter saß am Steuer eines kleinen Baggers, der genauso gelb wie sein Regenmantel war.

Noch bevor es in das offene Grab hineinregnen konnte, wurde dieses mit Erde aufgefüllt, die man anschließend feststampfte.

»Leb wohl«, murmelte Joey.

Er hätte eigentlich das Gefühl haben müssen, am Ende eines wichtigen Lebensabschnitts angelangt zu sein, etwas abgeschlossen zu haben. Aber er fühlte sich nur leer und unvollkommen. Falls er je gehofft hatte, einen endgültigen Schlußstrich ziehen zu können, so war es ihm nicht gelungen.

5

Wieder zurück in seinem Elternhaus, ging Joey die schmale Kellertreppe hinab. Vorbei am Heizkessel. Vorbei an dem kleinen Heißwasserboiler.

Die Tür zu P. J.’s ehemaligem Zimmer war durch Alter und Feuchtigkeit verzogen. Sie quietschte in den Angeln und schabte über die Schwelle, als Joey sie aufriß.

Regen trommelte an die zwei schmalen Klappfenster, die hoch an der Außenwand angebracht waren, und das graue Tageslicht vermochte den Raum nicht zu erhellen. Er drückte auf den Lichtschalter neben der Tür, und eine nackte Glühbirne an der Decke spendete Licht.

Der kleine Raum war leer. Vor vielen Jahren hatten seine Eltern das Bett und die anderen Möbel wohl für ein paar Dollar verkauft. Wenn P. J. in den letzten zwanzig Jahren nach Hause gekommen war, hatte er in Joeys Zimmer im ersten Stock geschlafen, denn Joey kam ja ohnehin nie zu Besuch.

Staub. Spinnweben. Unten an den Wänden:    dunkle Schimmelflecken.

Das einzige, was noch darauf hindeutete, daß P. J. früher einmal hier gewohnt hatte, waren einige Filmposter, die mit Reißzwecken an die Wände geheftet waren - vergilbte, eingerissene und an den Ecken aufgerollte grelle Plakate, die für miserable Filme Reklame gemacht hatten.

An der High Shool hatte P. J. davon geträumt, aus Asherville und aus der Armut herauszukommen und Filmregisseur zu werden. »Aber diese Poster sollen mich immer daran erinnern«, hatte er Joey einmal erklärt, »daß Erfolg um jeden Preis sich nicht lohnt. In Hollywood kann man sogar mit solch billigem Schund reich und berühmt werden. Wenn ich es jedoch nicht schaffe, wirklich gute Arbeit zu leisten, werde ich hoffentlich den Mut haben, meinen Traum ganz aufzugeben, anstatt mich zu verkaufen.«

Entweder hatte das Schicksal P. J. nie eine Chance in Hollywood gegeben, oder aber er hatte irgendwann einfach das Interesse am Filmemachen verloren. Statt dessen war er als Schriftsteller zu Ruhm und Ehren gelangt und hatte somit Joeys Träume verwirklicht, nachdem Joey sie aufgegeben hatte.

Die Literaturkritiker hielten sehr viel von P. J.’s Werken. Aus dem Material, das er auf seinen Reisen kreuz und quer durch die USA sammelte, entstand eine geschliffene Prosa, die unter einer scheinbar simplen Oberfläche geheimnisvolle Tiefen verbarg.

Joey beneidete seinen Bruder - aber ohne jede Mißgunst. Er gönnte P. J. den wohlverdienten Ruhm und das wohlverdiente Vermögen, und er war stolz auf ihn.

In ihrer Kindheit und Jugend hatten sie eine sehr enge Bindung gehabt, und daran hatte sich im Grunde bis jetzt nichts geändert, obwohl ihr Kontakt sich jetzt größtenteils auf Ferngespräche beschränkte. P. J. rief aus Montana, Maine, Key West oder aus irgendeiner verschlafenen Kleinstadt auf der texanischen Hochebene an, und manchmal schneite er auch unangemeldet bei Joey herein; aber das kam nur alle drei oder vier Jahre einmal vor, und auch dann blieb er nie länger aus zwei Tage, meistens sogar nur einen Tag.

Kein Mensch hatte Joey jemals so viel bedeutet wie P. J., und daran würde sich nie etwas ändern. Seine Gefühle für den älteren Bruder waren viel zu tief und komplex, als daß er sie jemandem hätte erklären können.

Der Regen hämmerte auf den Rasen jenseits der Kellerfenster. Vom Himmel - so weit oben, daß es sich in einer anderen Welt abzuspielen schien - krachte wieder der Donner.

Er war in den Keller gekommen, weil er ein Einmachglas suchte. Doch der Raum war bis auf die Filmposter völlig leer.

Dicht neben seinem Schuh huschte eine fette schwarze Spinne über den Betonboden. Er zertrat sie nicht, sondern beobachtete ihre Flucht, bis sie in einem Riß Zuflucht fand. Dann machte er das Licht aus, ließ die verzogene Tür offenstehen und durchquerte den Heizungsraum.

Auf den obersten Treppenstufen, fast schon in der Küche, sagte er vor sich hin: »Ein Einmachglas? Was für ein Einmachglas?«

Verwirrt blieb er stehen und blickte die Treppe hinab.

Ein Einmachglas mit irgend etwas. Oder für etwas?

Er konnte sich nicht erinnern, wozu er ein Einmachglas benötigte haben könnte oder nach was für einem Glas er gesucht hatte.

Ein weiteres Anzeichen von geistiger Verwirrung?

Er hatte viel zu lange nichts getrunken.

Das Unbehagen und die Desorientierung, die ihn seit seiner Ankunft in Asherville am Vortag quälten, wurden immer stärker. Er ging rasch die letzten Stufen hinauf und schaltete das Kellerlicht aus.

Sein Koffer stand gepackt im Wohnzimmer. Er trug ihn auf die Veranda, schloß die Haustür hinter sich ab und legte den Schlüssel unter die Matte, wo er ihn vor nicht einmal 24 Stunden gefunden hatte.

Etwas knurrte hinter ihm, und als er sich umdrehte, sah er einen nassen, räudigen schwarzen Hund auf den Verandastufen stehen, der die Zähne fletschte und ihn aus schwefelgelben Augen anstarrte.

»Verschwinde«, sagte Joey, nicht drohend, sondern ganz sanft.

Der Hund knurrte wieder, senkte den Kopf und spannte die Muskeln an, so als wolle er Joey anspringen.

»Du gehörst genausowenig hierher wie ich« erklärte Joey ihm.

Das Tier wirkte verunsichert, schüttelte sich, leckte sich das Maul und trat den Rückzug an.

Mit seinem Koffer in der Hand blickte Joey dem Hund von der obersten Verandastufe aus nach, der durch den schrägen grauen Regen lief, um die Ecke bog und sich am Ende des Blocks scheinbar in Luft auflöste, so als wäre er nur eine Fata Morgana gewesen. Unwillkürlich fragte Joey sich, ob er wieder eine Halluzination gehabt hatte.

6

Die Anwaltskanzlei befand sich im ersten Stock eines Ziegelbaues in der Main Street, über der Old Town Tavern. Das Lokal war an Sonntagnachmittagen geschlossen, doch die kleinen Neonschilder, die in den Fenstern für Rolling Rock und Pabst Blue Ribbon warben, färbten den Regen vor den Scheiben grün und blau.

Der schwach beleuchtete Korridor diente auch als Zugang zu einem Zahnarzt und einem Immobilienmakler. Henry Kadinskas Kanzlei bestand aus zwei Räumen. Die Tür zum Empfangszimmer stand offen.

Joey trat ein und rief: »Hallo?«

Die innere Tür war angelehnt, und von dort antwortete ein Mann: »Kommen Sie bitte herein, Joey.«

Der zweite Raum war größer als der erste, aber alles andere als imposant. Bücherregale mit juristischer Fachliteratur nahmen zwei Wände ein; zwei Diplome hingen leicht schief an der dritten Wand. Die herabgelassenen Holzjalousien an den Fenstern waren sehr alt - solche Modelle wurden seit mindestens 50 Jahren nicht mehr hergestellt. Zwischen den horizontalen Lamellen war von dem regnerischen Tag nicht viel zu sehen.

Zwei gleiche Mahagonischreibtische standen einander gegenüber. Früher hatte Henry Kadinska mit seinem Vater Lev zusammengearbeitet, der ursprünglich Ashervilles einziger Anwalt gewesen war. Lev war gestorben, als Joey die letzte Klasse der High Shool besuchte, aber sein unbenutzter Schreibtisch blieb, auf Hochglanz poliert, als Erinnerungsstück in der Kanzlei stehen.

Henry legte seine Pfeife in einen großen Aschenbecher aus geschliffenem Glas, stand auf und reichte Joey über den Schreibtisch hinweg die Hand. »Ich habe Sie bei der Messe gesehen, wollte aber nicht stören.«