Drinnen im Halbdunkel kämpfte sich der ältliche Hausmeister in seinen Regenmantel. »Er ist im Büro, Miss Parker. Und brüllt alle fünf Minuten nach Ihnen.«
»Danke, Joe.« Das war also die Sache mit dem Optimismus. Der Hausmeister klapperte mit seinen Schlüsseln, bereit, abzuschließen. Er ging heute zeitig nach Hause. Vielleicht hatte Wood ihm den Abend freigegeben.
Willa stürzte über die hintere Bühne, zwischen Stapeln unbe-malter Baumzweige hindurch, die für die nächste Produktion benötigt wurden. Der weite, leere Raum roch nach frischem Holz, altem Make-up und Staub. Aus einer halb geöffneten Tür über ihr fiel Licht. Willa hörte Woods tiefe Stimme:
»Ich gehe, und es ist vollbracht - die Glocke ruft mich. Hör nicht auf sie, Duncan; denn es ist eine Totenglocke - die dich in Himmel oder Hölle abberuft.« Dann wiederholte er: »... oder Hölle«, mit veränderter Modulation.
Willa stand bewegungslos vor dem Büro; ein Schauer lief ihr über den Rücken. Ihr Arbeitgeber probte den Monolog eines der Hauptdarsteller. An diesem Stück von Shakespeare klebte das Unglück, so glaubten die meisten Schauspieler, obwohl einige anmerkten, daß darin eine Menge Bühnenkämpfe vorkamen und die Ursachen für ein Loch im Kopf, einen bösen Sturz oder einen gebrochenen Arm oder ein gebrochenes Bein im Text und nicht in den Sternen begründet lagen. Doch der Aberglaube hielt sich hartnäckig. Wie viele andere Schauspieler und Schauspielerinnen lachte Willa darüber, während sie gleichzeitig Respekt davor hatte. Niemals wiederholte sie irgendwelche Zeilen hinter der Bühne oder in der Garderobe oder im Aufenthaltsraum. Sie sprach immer nur von dem schottischen Stück<;
sprach man den Titel im Theater aus, dann beschwor man das Unheil förmlich herauf.
Sie blickte hinter sich in die Dunkelheit. Wo waren die anderen Ensemblemitglieder, die für die Probe hiersein sollten? In der Stille hörte sie lediglich ein ganz leises Knirschen - vielleicht strich die Katze herum. Sie verspürte den Drang fortzulaufen.
»Wer ist da?«
Claudius Woods Schatten lief ihm zur Tür voraus. Er riß sie ganz auf, das Rechteck des Gaslichts vergrößerte sich und zeigte Willa mit der Petition in der Hand.
Woods Krawatte war gelockert, seine Weste aufgeknöpft, die Ärmel hochgerollt. Er funkelte sie an. »Der Termin war um halb. Sie sind vierzig Minuten zu spät dran.«
»Mr. Wood, entschuldigen Sie bitte. Ich habe mich verspätet.«
»Weshalb?« Er bemerkte die Papiere mit den Unterschriften. »Ein weiterer Ihrer radikalen Kreuzzüge?« Sie erschrak, als er ihr die Petition aus der Hand riß. »Oh, Jesus Christus. Die armen, elenden Indianer. Aber bitte nicht in der Zeit, für die ich bezahle. Kommen Sie, damit wir mit der Arbeit anfangen können.«
Irgendeine vage, undefinierbare Ahnung warnte sie - drängte sie, aus dem lautlosen Theater und vor diesem bulligen Mann zu flüchten, in dessen gutgeschnittenem Gesicht sich bereits ein Netz von Adern abzeichnete und dessen Nase mittlerweile eine klobige, schwammige Form angenommen hatte. Gleichzeitig aber wollte sie unbedingt die schwierige Rolle spielen, die er ihr angeboten hatte. Die Rolle verlangte nach einer älteren, erfahrenen Schauspielerin. Sollte sie die Rolle meistern, dann würde sie das in ihrer Karriere einen gehörigen Sprung nach vorn bringen.
Und trotzdem ...
»Kommt denn sonst niemand?«
»Heute abend nicht. Ich dachte, daß unsere gemeinsamen Szenen spezieller Aufmerksamkeit bedürften.«
»Könnten wir dann bitte auf der Bühne proben? Schließlich ist das das schottische Stück.«
Unter seinem bellenden Gelächter kam sie sich klein und albern vor.
»Sie glauben doch wohl nicht an diesen Unsinn, Willa. Sie sind doch so intelligent und vertreten so viele fortschrittliche Ideen.« Er blätterte die Papiere mit dem Fingernagel durch und gab sie ihr dann zurück. »Das Stück heißt >Macbeth<, und ich spreche den Text, wo immer es mir paßt. Und jetzt kommen Sie rein, damit wir anfangen können.«
Er drehte sich um und ging zurück ins Büro. Willa folgte ihm; ein Teil ihres Verstandes sagte ihr, daß er recht hatte, daß es kindisch von ihr war, sich wegen eines Aberglaubens Sorgen zu machen. Peter Parker allerdings hätte sich gesorgt.
Über ihr dröhnte und donnerte es - der Sturm wurde schlimmer. Das Schauspielerkind in Willa war überzeugt davon, daß sich böse Mächte über der Chambers Street zusammenrotteten. Ihre Hände wurden kalt, während sie ihrem Arbeitgeber folgte.
»Legen Sie Ihren Schal und Ihren Hut ab.« Wood schob Stühle beiseite, um auf dem schäbigen Tisch Platz zu schaffen. Das Büro war eine Deponie unterschiedlichster Möbel und unechter Grünpflanzen in Töpfen aller Größen. Plakate von New-Kni-ckerbocker-Produktionen bedeckten die Wände. Goldsmith, Moliere, Boucicault, Sophokles. Der Schreibtisch war mit Rechnungen, Manuskripten, Verträgen und Notizen übersät. Wood schob Macbeths emaillierten Dolch beiseite, ein metallenes Requisit mit stumpfer Spitze, und schenkte sich ein paar Fingerbreit Whisky aus einer Karaffe ein. Die grünen Glasschalen über den Gasbrennern schienen den Raum eher zu verdunkeln als zu erhellen.
Nervös legte Willa die Petition auf einen samtbezogenen Stuhl. Sie legte ihre Handschuhe darauf, dann Schal und Hut. Alles auf einen Haufen, für den Fall, daß sie die Sachen eilig an sich raffen mußte. Mit zwölf Jahren hatte sie schon recht erwachsen gewirkt, und die am Theater arbeitenden Männer hatten auf ihre erwachende Schönheit reagiert. Sie hatte gelernt, sie mit ein paar gutgelaunten Worten abzuwehren und, falls notwendig, sogar ein bißchen physische Kraft einzusetzen. Was das Weglaufen anbelangte, so war sie eine Expertin.
Wood schlenderte zur Tür und schloß sie. »Also dann, meine Liebe. Erster Akt, siebte Szene.«
»Aber das haben wir doch gestern schon geprobt.«
»Ich bin damit noch nicht zufrieden.« Er kam auf sie zu. »Macbeths Schloß.« Grinsend ließ er seine Handfläche über ihren Seidenärmel gleiten. »Fangen Sie in der Mitte von Lady Macbeths Monolog an, wo sie sagt: >Ich habe gestillt<.« Er genoß das letzte Wort. Das Gaslicht ließ seine feuchte Unterlippe aufleuchten. Willa bemühte sich, Furcht und traurige Verzweiflung niederzukämpfen. Es war nun offensichtlich, so offensichtlich, was er die ganze Zeit gewollt und weshalb er sie engagiert hatte, wo doch so viele ältere Schauspielerinnen verfügbar gewesen wären. Mrs. Drew hatte alles versucht, um es ihr zu erklären, ohne zu deutlich werden zu müssen. Sie fühlte sich nicht geschmeichelt, sie war lediglich aufgebracht. Falls das der Preis für ihr Debüt in New York war, dann würde sie ihn, verdammt noch mal, nicht bezahlen.
»Fangen Sie an«, wiederholte er mit rauher Stimme, die sie in Alarmbereitschaft versetzte. Wieder streichelte er ihren Arm. Sie versuchte zurückzuweichen. Er schob sich einfach vor und blies ihr seinen Bourbon-Atem ins Gesicht.
»Ich habe gestillt und weiß ...« Sie zögerte. »Welch zärtliches Gefühl ist es, das Baby zu lieben, das meine Milch trinkt.«
»Weißt du das jetzt?« Er beugte sich vor und küßte ihren Hals.
»Mr. Wood ...«
»Weiter.« Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie; das war der Moment, in dem sie das eiskalte Entsetzen überkam. In seinen schwarzen Augen entdeckte sie etwas, das über reinen Zorn hinausging. Sie erkannte die Bereitschaft zu verletzen.
»Ich würde - noch als es lächelnd ins Gesicht mir blickte, ihm entzogen meine Brüste aus dem zarten Gaumen .«
Woods Hand glitt von ihrem Arm zu ihrer Brust, umschloß sie. »Mir entziehst du sie nicht, was?«
Sie stampfte mit ihrem hohen Schnürstiefel auf. »Hören Sie, ich bin Schauspielerin. Behandeln Sie mich nicht wie ein Straßenmädchen.«
Er packte sie am Arm. »Ich zahle dein Gehalt. Du bist das, was ich dir befehle - einschließlich meine Hure.«