In seinen jungen Jahren zeigte Des LaMotte eine für einen Jungen ungewöhnliche Beweglichkeit, ganz gleich, ob es nun beim Reiten oder beim Hufeisenwerfen mit Charlestons freien Negerkindern war, was angesichts seines schnellen Wachstums besonders erstaunte. Seine Eltern erkannten diese Fähigkeit, und da sie an den Segen von Tanzstunden für junge Gentlemen glaubten, bekam er mit elf Jahren seinen ersten Unterricht. Des vergaß niemals die strengen Worte seines Tanzlehrers. Er hatte sie in seinem Gedächtnis gespeichert und benützte sie später bei seinen eigenen Schülern:
»Die Tanzschule ist kein Ort des Amüsements, sondern ein Ort der Erziehung. Und am Ende dieser Erziehung steht nicht, daß aus Ihnen ausgebildete Tänzer werden, sondern Sie sollen gute Söhne und Töchter, gute Ehemänner und Ehefrauen, gute Bürger und gute Christen werden.«
In den fünf Jahren vor dem Krieg hatte Des, glücklich mit Miss Sally Sue Means aus Charleston verheiratet, eine Schule in der King Street eingerichtet; seine Geschäfte florierten bei den Plantagenbewohnern im Tiefland, durch das er dreimal jährlich - stets seinen Besuch im voraus in den Lokalzeitungen ankündigend - eine Rundreise startete. An Schülern fehlte es ihm nie. Er brachte den Jungs ein bißchen Fechten bei, aber meist unterrichtete er Tanz: die traditionellen Quadrillen und Yorks und Reels, wobei sich die Tänzer in einer Reihe aufstellten; so wurde ihre Moral nicht durch übertriebenen Körperkontakt gefährdet. Außerdem lehrte er die neueren, tollkühneren Importe aus Europa, den Walzer und die Polka, enge Tänze, bei denen sich die Tanzenden in gefährlicher Intimität ins Gesicht sahen. Ein Geistlicher der Episkopalkirche in Charleston hatte gegen den Greuel gewettert, >der es einem Mann, der weder der Verlobte noch der Ehemann war, erlaubte, seine Arme um eine Dame zu legen und leicht die Konturen ihrer Taille zu pressen<. Des lachte darüber. Er hielt alle Tänze für moralisch, weil er auch sich selbst und all seine Schüler für moralisch hielt. Die fünf Jahre, in denen er nach dem Standardbuch, Rambeaus >Tanzlehrer< -sein zerlesenes Exemplar befand sich in diesem Augenblick in seiner Satteltasche -, unterrichtet hatte, waren zauberhafte Jahre gewesen. Trotz der Verfechter der Sklavenbefreiung und der Kriegsdrohung veranstaltete er großartige Bälle und Plantagenfeste und beobachtete entzückt, wie attraktive weiße Männer und Frauen bei Kerzenschein von sieben Uhr abends bis drei oder vier Uhr morgens tanzten, ohne außer Atem zu kommen. Gekrönt wurde all das von der glorreichen Wintersaison in Charleston und dem großen Ball der prestigeträchtigen St.-Ceci-lia-Gesellschaft.
Des' Kenntnisse des Tanzes waren sehr umfassend. Er hatte den Plankentanz der Grenzpioniere gesehen, bei dem zwei Männer auf einem auf zwei Fässern ruhenden Brett tanzten, bis einer herunterfiel. Auf den Plantagen hatte er den Tanz der Sklaven beobachtet, der seine Wurzeln in Afrika hatte und aus komplizierten Schritten unter Einsatz von Fersen und Zehenspitzen bestand, wobei mit Tierknochen der Rhythmus geschlagen wurde. Im allgemeinen verboten die Plantagenbesitzer ihren Sklaven den Gebrauch von Trommeln, aus Furcht, es könnten damit geheime Botschaften über Rebellionen und Brandanschläge übermittelt werden.
Viele Stunden lang hatte er über einem Porträt von Thomas D. Rice geträumt, diesem großartigen weißen Tänzer, der zu Beginn des Jahrhunderts sein Publikum mit der Verkörperung des schwarzen Jim Crow zu Begeisterungsstürmen hingerissen hatte. Des kannte das ganze Universum des amerikanischen Tanzes, doch den Leuten, die ihn bezahlten, gestand er, daß er nur die Tänze wirklich liebte, die er selber lehrte.
Der erste Kanonenschuß bei Fort Sumter zerfetzte sein Universum. Er schloß sich sofort den Palmetto Rifles an, einer von seinem besten Freund, Captain Ferris Brixham, organisierten Einheit. Von den ursprünglich achtzig Männern waren im April dieses Jahres nur noch drei übriggeblieben, als General Joe Johnston mit der letzten Armee der Konföderierten bei Dur-ham Station, North Carolina, kapitulierte. In der Nacht vor der Kapitulation wurden Des und Ferris auf der Suche nach etwas Eßbarem von einem brutalen Yankee-Sergeant und vier seiner Männer erwischt und bewußtlos geschlagen. Des überlebte; Fer-ris starb in seinen Armen, eine Stunde nachdem Offiziere die Kapitulation verkündet hatten. Ferris hinterließ eine Frau und fünf kleine Kinder.
Verbittert schlug sich Des bis nach Charleston durch, wo ihm ein fünfundachtzigjähriger Onkel mitteilte, daß Sally Sue im Januar an Lungenentzündung und Unterernährung gestorben sei. Als wäre das noch nicht genug, waren die LaMottes während des Krieges von Mitgliedern einer anderen Familie im Ashley-Bezirk mit Schimpf und Schande bedeckt worden. Das war mehr, als Des ertragen konnte. Sein Verstand setzte aus. Es kam ein Monat, von dem er nicht mehr die geringste Erinnerung besaß. Verwandte kümmerten sich um ihn.
Jetzt ritt er auf seinem Maultier durch die Sümpfe, auf der Suche nach früheren Kunden oder Leuten, die sich Unterrichtsstunden für ihre Kinder leisten konnten. Er fand niemanden. Hinter ihm marschierte barfuß sein fünfzigjähriger Diener, ein arthritischer Schwarzer namens Juba; es war ein Sklavenname, der >Musiker< bedeutete. Des hatte gleich nach seiner Heimkehr Juba einen Vertrag über ein lebenslanges Dienstverhältnis unterschreiben lassen. Die neue Freiheit, die der legendäre >Linkum< ihnen beschert hatte, erschreckte Juba. Nur zu bereitwillig setzte er sein Zeichen unter das Papier, das er nicht lesen konnte.
Juba marschierte im Sonnenschein dahin, eine Hand auf dem Hinterteil des Mulis, auf dem ein Mann saß, der nur zwei Ziele kannte: seinen Beruf, den er liebte, wieder in einer Welt auszuüben, in der die Yankees die Ausübung dieses Berufes fast unmöglich gemacht hatten, und jene zur Rechenschaft zu ziehen, die zu seinem Unglück und dem seiner Familie und seiner Heimat beigetragen hatten.
Das war der Mann, der nun seiner Begegnung mit Cooper Main entgegenritt.
Eine ungefähr 75 Zentimeter breite Gelbkieferplanke lag über einer Stelle des Salzsumpfes, die ansonsten unpassierbar gewesen wäre. Cooper erreichte das eine Ende der Planke, kurz bevor der linkische Bursche mit seinem kummervoll dreinschauenden Neger am anderen Ende ankam.
Einige Meter von dem Übergang entfernt sonnte sich ein Alligator auf einem trockenen kleinen Hügel. In den Küstensümpfen kamen sie häufig vor. Bei diesem hier handelte es sich um ein ausgewachsenes Exemplar: zwölf Fuß lang, wahrscheinlich fünfhundert Pfund schwer. Aufgeschreckt von den Störenfrieden glitt er ins Wasser und tauchte unter. Nur seine Augen ragten aus dem Wasser und zeigten an, daß er langsam auf die Planke zuglitt. Wenn sie zu hungrig waren oder einen Menschen oder ein Tier als Bedrohung ansahen, konnten Alligatoren durchaus gefährlich werden.
Cooper bemerkte den Alligator. Schon als Kind hatte er diese Tiere oft genug zu Gesicht bekommen, aber ihr Anblick erschreckte ihn immer noch. Selbst jetzt quälten ihn gelegentlich Alpträume, in denen er ihre zahnstarrenden Kiefer vor sich sah. Er schauderte, als die Augen näherglitten. Plötzlich tauchten sie weg, und der Alligator schwamm davon.
Cooper kam der junge Mann mit dem Knebelbart irgendwie bekannt vor, aber er wußte nicht, wohin er ihn stecken sollte. Vom anderen Ende der Planke hörte er ihn sagen: »Machen Sie Platz!«
Gereizt entgegnete Cooper: »Ich sehe keinen Grund ...«
»Ich wiederhole, Sir, machen Sie Platz.«
»Nein, Sir. Sie sind impertinent und anmaßend. Außerdem kenne ich Sie nicht.«
»Aber ich kenne Sie, Sir.« Der Blick des jungen Mannes verriet unterdrückte Wut, doch seine Stimme behielt den freundlichen Konversationston. Der Widerspruch ließ Coopers Nerven zucken.
»Sie sind Mr. Cooper Main aus Charleston. Die Carolina Shipping Company. Mont-Royal-Plantage. Desmond LaMotte, Sir.«
»Ah ja. Der Tanzlehrer.« Nachdem das geklärt war, trieb Coo-per sein Pferd über die Planke.
Es war, als würde man ein Streichholz in trockenes Gras werfen. Des jagte sein Muli voran. Hufe klapperten über die Planke. Das Maultier erschreckte Coopers Pferd, das zur Seite trat und stürzte. Cooper drehte sich in der Luft, um nicht unter das Pferd zu kommen, und landete in den Untiefen neben seinem Pferd. Er kämpfte sich unverletzt, aber schlammbedeckt wieder hoch.