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»Ganz und gar nicht. Mit seinem Charme hält er viele Leute zum Narren.« Booth tätschelte ihre Schulter, erhob sich dann. Er trug schwarze Hosen und winzige Slipper; seine Füße waren kleiner als die ihren. »Du bist durchgefroren. Ich bringe dir einen Cognac. Ich habe eine Flasche da, auch wenn ich sie selbst nie anrühre.«

Er trank nie Alkohol, wie sie wußte. Als Booths Frau Mary 1863 im Sterben gelegen hatte, war er zu betrunken gewesen, um auf die Bitten von Freunden zu hören und zu ihr zu gehen. Dieser Teil seiner Vergangenheit belastete ihn fast ebenso stark wie der unselige Abend im Ford's Theater.

Willa starrte hinaus in den Regen, während Booth Cognac in einen Schwenker goß und ihn mit seinen Händen anwärmte. »Ich werde morgen losgehen und herauszufinden versuchen, was Wood nun unternimmt, nachdem du der Polizei entwischt bist.« Er reichte ihr den Schwenker. Der Cognac verbreitete eine wohlige Wärme in ihrem Innern und beruhigte ihren aufgewühlten Magen. »Inzwischen würde ich mich nicht darauf verlassen, daß er die Sache auf sich beruhen läßt. Neben seinen anderen wunderbaren Charaktereigenschaften ist er auch noch rachsüchtig. Unter den örtlichen Theatermanagern hat er viele Freunde. Zumindest wird er dafür sorgen, daß du in New York keine Arbeit bekommst.«

Willa wackelte mit ihren nackten Zehen. Ihr Knöchel schmerzte jetzt nicht mehr so stark. Im Kamin krachten die Scheite von Apfelbäumen und füllten den Raum mit einem süßen Aroma. Während sie ihren Cognac schlürfte, starrte Booth melancholisch auf ein gerahmtes Foto, das auf der Marmorplatte eines Tisches stand: drei Männer in römischen Togas waren darauf zu sehen. Es war eine Aufnahme aus der berühmten Vorstellung im November 1864, als er für einen Abend den Brutus und seine Brüder Johnny und June den Cassius und den Antonius gespielt hatten.

Sie stellte den Cognacschwenker beiseite. »Zur Arch Street kann ich nicht zurück, Eddie. Mrs. Drew hatte ihre Truppe zusammen. Sie sorgte gleich für Ersatz, nachdem ich ihr von meinen Plänen erzählt hatte.«

»Louisa hätte dich vor Wood warnen sollen.«

»Indirekt hat sie das auch getan. Ich habe nur nicht darauf geachtet. Ich habe eine Menge Fehler, und einer der schlimmsten ist wohl, daß ich von jedermann nur gut denke. Das ist eine gefährliche Unzulänglichkeit.«

»Nein, nein, das ist eine Tugend. Denk niemals anders!« Er tätschelte ihre Hand. »Angenommen, New York bleibt dir von nun an verschlossen, kannst du anderswo arbeiten?«

»Du meinst, ob ich fortlaufen kann, irgendwohin? Fortlaufen ist stets das Heilmittel, das mir als erstes einfällt. Und hinterher tut es mir immer leid. Ich hasse Feigheit.«

»Vorsicht hat nichts mit Feigheit zu tun. Ich sag's dir noch mal, das ist mehr als ein Streit im Schulhof. Denk einen Augenblick nach. Wohin kannst du gehen?«

Verloren schüttelte sie den Kopf. »Es gibt keinen einzigen -nun ja, doch. St. Louis. Ich habe ein Dauerangebot von einem alten Kollegen von Papa. Du kennst ihn. Du warst mit ihm und Papa auf Tournee in Kalifornien.«

»Sam Trump?« Endlich lächelte Booth. »Amerikas Schauspie-leras? Ich wußte nicht, daß Sam in St. Louis ist.«

»Er hat dort sein eigenes Theater, in Konkurrenz zu Dan De-Bar. Letzte Weihnachten schrieb er mir davon. Es klang so, als würde es für ihn nicht gut laufen.«

Booth ging zum Fenster. »Wahrscheinlich trinkt er. Das scheint der Fluch dieses Berufs zu sein.« Er wandte sich um. »St. Louis könnte allerdings eine ideale Zufluchtsstätte sein. Ziemlich weit weg, aber eine gute Stadt fürs Theater, seit Ludlow und Drake sich dort in den Zwanzigern niedergelassen hatten. Für Tourneen steht einem das ganze Mississippital offen, und kein Konkurrenztheater bis Salt Lake City. Ich habe gern in St. Louis gespielt. Mein Vater ebenso.«

Er starrte hinaus in die Dunkelheit und lächelte erneut.

»Wann immer er dort auftauchte, konnte er stets ein paar Cents sparen, weil er die Nebenrollen mit Schauspielern der Thespians, einer guten Amateurgruppe, besetzte. Unglücklicherweise gab er die Cents dann für eine weitere Flasche aus.« Er schüttelte die Erinnerung ab. »Aber was jetzt wichtiger ist, Sam Trump ist ein anständiger Mann. Er wäre jetzt ein erfolgreicher Schauspieler, wenn er sich nicht mit Leib und Seele der Körpertechnik von Forrest verschrieben hätte. Sam hat den heroischen Stil zur Religion erhoben. Er zerreißt ein großes Gefühl nicht nur, er zertrümmert es ein für allemal.«

Eine weitere nachdenkliche Pause, dann ein Nicken. »Ja, Sams Theater könnte gut laufen. Wer weiß? Vielleicht könntest du ihn zurechtbiegen?«

Erschöpft und unglücklich sagte Willa: »Muß ich mich jetzt auf der Stelle entscheiden?«

»Nein. Erst wenn wir herausgefunden haben, was Wood plant. Komm mit.« Er streckte seine Hand mit einer glatten, fließenden Bewegung aus, die allein schon eine Aufführung wert gewesen wäre. »Ich zeige dir dein Zimmer. Ein ausgiebiger Schlaf wird Wunder wirken.«

Auf dem Weg hinaus warf er wieder einen Blick auf Johnnys Bild. Armer Eddie, dachte sie, du versteckst dich immer noch vor der Welt, weil so viele nach Rache schreien, obwohl Johnny aufgespürt und vor fast zwei Monaten in der Nähe von Bowling Green in Virginia erschossen worden ist. Der Gedanke an die Last, die Booth zu tragen hatte, ließ sie ihr eigenes Unglück vergessen, und darüber schlief sie ein.

Als sie am nächsten Nachmittag gegen zwei erwachte, war ihr Freund verschwunden. Der Himmel draußen war immer noch stürmisch bewölkt. Eine leichte Mahlzeit aus Früchten, schottischen Brötchen und Marmelade war unten aufgebaut. Sie aß gerade mit sehr gutem Appetit, als sich der Hausschlüssel drehte und er hereinmarschiert kam; er sah sehr verwegen aus mit Schlapphut und Operncape und Ebenholzstock.

»Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten. Wood hat einen Haftbefehl beantragt. Ich kaufe dir eine Fahrkarte und schieße dir ein bißchen Reisegeld vor. Du darfst deine Bank nicht besuchen. Oder deine Unterkunft.«

»Eddie, ich kann doch meine Sachen nicht zurücklassen. Meine Sammlung der Werke von Mr. Dickens. All die Rollen, die ich gespielt habe, seit ich das erste Mal auf der Bühne stand -jedes Stück ist von sämtlichen Schauspielern unterschrieben, die mitgewirkt haben.«

Booth warf seinen Hut beiseite. »Für dich mag das kostbar sein, aber das Gefängnis ist es nicht wert.«

»Oh Gott. Hat er wirklich ...?«

»Ja. Die Anklage lautet auf versuchten Mord.«

Einen Tag später führte er sie nach Anbruch der Dunkelheit aus dem Haus zu einer Mietdroschke, die schnell über Pflastersteine ratterte und dann durch Dreck und Schlamm zu einem Hudson-River-Pier. Er reichte ihr einen Koffer mit Kleidern, die er für sie gekauft hatte, gab ihr einen langen, liebevollen Kuß auf die Wange und murmelte, Gott möge sie beschützen. Sie ging an Bord der Fähre nach New Jersey; während der ganzen Überfahrt warf sie keinen Blick zurück. Würde sie sich nur einmal umdrehen, das wußte sie, dann würde sie in Tränen ausbrechen und mit dem nächsten Boot zurückfahren - geradewegs der Katastrophe entgegen.

Als sie den Zug in Chicago verließ, schickte sie Sam Trump ein Telegramm. Sie stieg in einem billigen Hotel ab und wartete auf seine Antwort, die am nächsten Morgen im Telegraphenamt eintraf; nur zu gern würde er für Unterkunft und Verpflegung sorgen und ihr einen Platz in seinem kleinen festen Ensemble geben. Für einen Mann, der dem Alkohol verfallen war, hörte er sich erstaunlich zuversichtlich an. Ihre Anspannung war so groß, daß sie das Offensichtliche übersah: Er war ein Schauspieler.

Wie Willas Vater war auch Mr. Samuel Horatio Trump in England geboren worden, in Stoke-Newington. Mit zehn Jahren war er in die Vereinigten Staaten gekommen, aber er hatte sich gewissenhaft seinen einheimischen Akzent bewahrt, in dem Glauben, daß er viel zu seinem beträchtlichen, durchaus verdienten Ruhm beitrug. Er hatte sich selbst zum Schauspieleras Amerikas ernannt, doch er war in der Branche auch unter dem Namen >Schluchzender Sam< bekannt, nicht nur, weil er auf ein Stichwort hin weinen konnte, sondern weil er das unvermeidlicherweise auch bis zum Exzeß tat.