»Niemand hatte eine Ahnung.«
»Es war die gewaltigste Erfahrung, die wir in unserem Leben gemacht haben.«
»Die Dinge wirken jetzt im Vergleich dazu ein bißchen gewöhnlich und alltäglich, nicht wahr?«
Er wich ihrem Blick aus. »Ja. Sie erscheinen auch irgendwie unvertraut. Weil Constance nicht mehr ist. Und Orry.«
Sie nickte. »Ich vermisse ihn schrecklich.«
Sie kletterten höher. Mit rotem Gesicht platzte George heraus: »Ich bin wirklich froh, daß wir dieses Treffen im Juli hatten.«
»Ja, wirklich. Was du bei diesem wunderbaren Essen sagtest, war absolut richtig. Unsere Familien sollten in enger Verbindung bleiben.«
Nach einer langen Pause: »Ich würde gern dein neues Haus sehen, Madeline.«
»Du bist jederzeit auf Mont Royal willkommen.«
Der Wind fauchte über die Gipfel der Berge. Lampen und Gaslichter leuchteten unten in der Stadt auf, ein dunstiges Gelb, ein dunstiges Blau. Ganz plötzlich stolperte George.
»Guter Gott«, rief Madeline, seine Schultern umklammernd, während er sich wieder aufrichtete. Sie war sich seiner Körpergröße bewußt. Er war einen ganzen Kopf kleiner als sie, jedoch ein richtiges Energiebündel - obwohl sein Gesicht jetzt den einfältigen Ausdruck eines Jünglings zeigte.
Auch sie kam sich nicht sehr erwachsen vor. Sie hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Sie hatte gewußt, daß dieser Moment kommen würde, seit sie seinen Blick in Philadelphia bemerkt hatte.
»Madeline, ich rede nicht gern um den heißen Brei herum. Ich - ich halte sehr viel von dir - und das nicht nur, weil du die Witwe meines besten Freundes bist. Ich will - ich will dich nicht drängen. Aber ich möchte dich gern fragen - wärst du empört, wenn ich vorschlagen würde, daß du und ich - vielleicht in angemessener Zeit .«
Er schaffte es nicht, den Satz zu beenden. Sie schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich würde es begrüßen, wenn ich richtig verstanden habe, was du sagen wolltest, George. Solange es keine Verwirrung wegen meiner Vergangenheit gibt. Meiner Herkunft.«
»Nein«, sagte er; seine Stimme klang plötzlich sehr stark und kräftig. »Das spielt nicht die geringste Rolle.«
»Gut.«
Er räusperte sich erneut, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihr einen keuschen Kuß auf die Wange.
Sie berührte kurz seinen Arm, ließ dann die Hand fallen. Er begriff, daß sie damit ihr Einverständnis ausdrücken wollte, und begann über das ganze Gesicht zu strahlen.
In der nahenden Dunkelheit stiegen sie höher. Er sagte, er wolle ihr gern den Krater zeigen, den der Meteor im Frühjahr 1861 wie ein Vorbote von Gottes Zorn geschlagen hatte. »Ich habe ihn auch seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Hier wächst nichts. Die Erde ist vergiftet.«
Sie folgten einer Windung des Pfades und sahen vor sich eine tiefe, smaragdgrüne Mulde im Berg. »Das ist nicht .«
»Doch, das ist es«, sagte er mit gedämpfter Stimme.
»Wie hübsch.«
Der Wind fuhr in den Krater und bewegte sanft das an den Abhängen und auf dem gewölbten Grund wachsende Sommergras, während die Nacht sich herabsenkte.
MADELINES JOURNAL
November 1876. Es herrschte große Verwirrung, wer die Wahl gewonnen hat, in South Carolina und in der gesamten Nation. Ich habe wenig dafür übrig. Die Engstirnigkeit im Staat widert mich an, vor allem wenn sie auf jemanden abfärbt, der den Namen Main trägt. Cooper prahlte Judith gegenüber, daß er nicht nur einem Hampton-Club angehöre, sondern auch einer jener extremen Demokraten sei, die sämtliche Neger vollkommen aus dem politischen Prozeß ausschalten wollen. Wie sehr unterscheidet er sich doch von dem Cooper, den ich einst kennengelernt habe ...
Die Politik ist nicht der wirkliche Grund für meine Verwirrung und Zerstreutheit. George drängt mit seiner Werbung. Heute wieder ein Brief.
... Den größten Teil der Nacht wachgelegen. Ich werde ihn heiraten. Hoffentlich tue ich das richtige ...
G. kommt zu Weihnachten zu Besuch. Er spricht in seinem letzten Brief von einer Verlobungsanzeige. Ich liebe ihn nicht; ich mag ihn und bewundere ihn. Genau das habe ich ihm auch gesagt. Es hält ihn nicht ab. Vielleicht werde ich ihn einst lieben, aber bestimmt nicht auf die gleiche leidenschaftliche Art und Weise wie dich, Liebster ...
Da ich mit G. ein neues Leben beginnen werde und dieses Buch für dich bestimmt ist, werde ich nur noch einige wenige Gedanken niederschreiben.
G. und ich werden unsere Zeit zwischen Mont Royal und Pennsylvania aufteilen. Schwierigkeiten werden unvermeidlich sein. Wir haben uns beide feierlich versprochen, sie zu bewältigen ...
George entfernte sich von dem Haus, ging zu der Stelle, wo der Rasen zum Ashley hin abzufallen begann. Sein Blick kletterte langsam an der weißen Säule neben der Doppeltür empor. Zweieinhalb Stockwerke hoch stieg die Säule in den blendenden Weihnachtshimmel.
Im Haus bereitete Madelines Personal lachend und scherzend das Festmahl zu. Die Dienerschaft bestand nur aus Schwarzen, die alle ein festes Gehalt bekamen. Doch es lag weder daran noch an dem Silberreiher, der träge über die Baumkronen strich, daß George das Gefühl hatte, in einem anderen Land zu sein.
Madeline beobachtete seine zufriedene Miene, was wiederum ein Lächeln bei ihr auslöste. George seufzte und kehrte zu ihr zu der Tür zurück. Er nahm ihre Hand.
»Es ist ein herrliches Haus. Orry wäre stolz darauf. Und in Wirklichkeit gehört es ja auch ihm. Ich kann nicht darin wohnen, nicht einmal für einen Teil des Jahres. Es wäre einfach nicht richtig.«
»Es tut mir leid, George. Allerdings überraschen mich deine Worte nicht. Nun, es macht nichts - ich habe es in seinem Andenken gebaut, und es ist genügend Geld da, um es der Familie zu erhalten. Wenn Theo besser etabliert ist, können vielleicht er und Marie-Louise mit ihren Kindern in das Haus ziehen. Da ich deine Gefühle vorausahnte, habe ich mir letzten Donnerstag ein hübsches Stadthaus in Charleston angesehen. Ich habe eine Anzahlung geleistet, um mir das Vorkaufsrecht bis Anfang des
Jahres zu sichern. Wenn du damit zufrieden bist, dann werde ich auch damit zufrieden sein.«
»Oh, ich bin überzeugt davon, daß es mir gefällt.« Er reckte sich, um sie auf die Wange zu küssen. »Frohe Weihnachten, meine Liebe.«
... Ich habe ein zu schlechtes Gewissen, um weiterschreiben zu können; ich muß Schluß machen. Du weißt, daß Du unvergessen bleibst, mein Liebster. Ich werde Dich immer lieben. Madeline
72
Madeline schloß das Journal. Sie fand ein Stück weißes Satinband und verschnürte das Buch wie ein Paket; zum Schluß machte sie eine kleine Schleife. Sie stieg die rechten Stufen der großen Doppeltreppe hinauf, die sich wie zur Begrüßung ausgestreckte Arme von oben herabschwang, und kletterte dann eine kleinere Treppe zu einer Tür hoch, die zu einem der weitflächigen Räume unter den Dachbalken führte.
Sie nahm eine Lampe von einem kleinen Tisch, zündete sie an und betrat das Dachgeschoß. Neben einem der breiten Backsteinkamine, die das Haus zu beiden Seiten begrenzten, stand ein kleiner, roter Lederkoffer mit runden Messingbeschlägen und einem Messingschlüssel in einem Messingschloß. Sie öffnete den Deckel. In dem Koffer lagen elf weitere, mit einem Band verschnürte Schreibhefte, genau wie das, welches sie in ihrer Hand trug. Sie legte das neue Heft hinein, betrachtete die Büchlein nachdenklich, klappte dann den Deckel zu und drehte den Schlüssel im Schloß. Sie verließ das Dachgeschoß, löschte die Lampe, ging mit dem Schlüssel zu ihrem Schreibtisch und bereitete ein Papierschildchen vor. Sie beschriftete das Schildchen mit Tinte - zur Identifizierung des Schlüssels - und band es mit einem kräftigen Zwirn an. Dann legte sie den Schlüssel in eine kleine Schublade des Schreibtisches, für welche Nachkommen auch immer. Es war der Neujahrsmorgen 1877.