Andere Zerstreuungen gab es in jedem Zelt, vor dem eine rote Laterne hing. Charles besuchte eines dieser Zelte und verbrachte eine halbe Stunde mit einer hausbackenen jungen Frau, die sich viel Mühe gab, ihm zu gefallen. Physisch befriedigt marschierte er hinaus, doch die Erinnerungen an Gus Barclay und das Gefühl, sie in den Schmutz gezogen zu haben, deprimierten ihn.
Zwei kleine Jungs rannten ihm nach, als er durch die Zeltstadt schlenderte. Sie verspotteten ihn mit einem kleinen Lied:
»Soldat, Soldat, willst du arbeiten?
Nein, lieber verkauf ich mein Hemd...«
Die Öffentlichkeit schätzte die Armee ganz gewiß hoch ein. Kaum war der Krieg zu Ende, da waren die Soldaten wieder zu unerwünschtem Abschaum geworden. Nichts hatte sich geändert.
Vier Wochen war er in Jefferson Barracks, als der Befehl kam: Er und sieben andere Rekruten hatten zwölf Stunden Zeit; dann mußten sie an Bord eines Dampfschiffs, das den Missouri River nach Fort Leavenworth, Kansas, hochfuhr, durch den ganzen Staat Missouri hindurch. Im Jahre 1827 von Colonel Henry Leavenworth gegründet, war das große Lager am rechten Ufer des Flusses nun der wichtigste Militärposten im Westen. Es diente als Hauptquartier für den Missouri-Bezirk und als Versorgungslager für alle Forts zwischen Kansas und der Kontinentalscheide. Man sagte ihnen, daß sie in Leavenworth eine Transportmöglichkeit finden würden, die sie zum Dienst bei der Sixth Cavalry an der texanischen Nordgrenze bringen würde. Die Aussicht freute Charles. Die natürliche Schönheit von Texas hatte ihm sehr gefallen, als er vor dem Krieg in Camp Cooper stationiert gewesen war.
Während ein Gewitter über den Baracken tobte, packte er seinen Reisesack und eine kleine, hölzerne Feldkiste, in die er seine Armeekleidung gab. Er zog seine blaue Bluse mit dem Rollkragen an und setzte sein Kepi mit den gekreuzten Kavalleristensäbeln auf. Das Unwetter verzog sich schnell, und er marschierte durch den leichten Regen zur Zeltstadt, eine fröhliche Marschversion der kleinen Melodie vor sich hin pfeifend, die ihn an zu Hause erinnerte.
Der Sturm hatte einige der kleineren Zelte umgestürzt und die Wege schlammig gemacht. Charles strebte auf das größte und hellste der Zelte zu, das Egyptian Palace, dessen Eigentümer aus Cairo, Illinois, stammte. Das Zelt war schäbig. Ein Stück Leinwand trennte eine Fläche für Offiziere ab; der Rest war für Mannschaftsdienstgrade und Zivilisten. Der Whisky war billig und kratzte, doch Charles empfand eine besondere Zufriedenheit, während er ihn trank.
Er hatte gerade seinen zweiten Drink bestellt, da kam ein Trio lärmender Unteroffiziere hereingeschwankt. Einer von ihnen war Corporal Hazen. Offensichtlich hatte er schon einige Zeit getrunken. Er entdeckte Charles am Ende der Bar und bemerkte, daß es hier stinke.
Charles starrte ihn an, bis er wegschaute und mit schriller Stimme eine Runde für seine Freunde orderte. Charles war dankbar, daß Hazen die Sache nicht auf die Spitze trieb. Er fühlte sich einfach zu gut.
Dieser Zustand dauerte genau zehn Minuten.
Ein kleiner, leichtgebauter Mann, auf dem Weg zum Offizierseingang, sah im Vorbeigehen ein bekanntes Gesicht unter den Soldaten drinnen. Er schaute weg, machte drei weitere Schritte, blieb dann mit geöffnetem Mund stehen. Er wandte sich um und spähte in das verqualmte Zelt. - Kein Irrtum möglich.
Sein Gesicht rötete sich, als er das Zelt betrat. Die Männer bemerkten seinen Gesichtsausdruck und verstummten.
In wiegendem, aggressivem Gang, der wahrscheinlich überspielen sollte, daß er nur 175 Zentimeter maß, stolzierte der Offizier auf das Ende der Bar zu. Seine Schultern waren straff zurückgezogen, wie bei jemandem, der großen Wert auf Armeeformalitäten legt. Alles an ihm strotzte nur so vor Wichtigtuerei: die gewachsten Spitzen seines Schnurrbarts, sein makellos gestutzter Kinnbart.
Der gelbe Besatz und die Hosenstreifen zeigten, daß er zur Kavallerie gehörte. Das silberverzierte Eichenblatt eines Lieutenants Colonel dekorierte seine Schulterstreifen. Er marschierte der Bar entlang; als er an einem bulligen, bärtigen Zivilisten in Wildledermantel mit einer Truthahnfeder im Haar vorbeikam, stieß er versehentlich gegen den Arm des Mannes und verschüttete dessen Whisky.
»He, du Arschloch«, sagte der Mann. Ein Hund zu seinen Füßen reagierte auf den Ton und knurrte den Offizier an, der ohne Entschuldigung weiterging, fest den Griff seines Zierdegens umklammernd.
»Cap'n Venable, Sir«, hörte Charles Hazen sagen, als der Offizier die drei Unteroffiziere erreichte. Das Silberblatt stammte also aus einer Ernennung aus Kriegszeiten.
»Hazen«, sagte der Mann und stürmte weiter. Charles beobachtete ihn, und sein Nacken begann zu jucken. Er erkannte den Offizier nicht, doch irgend etwas an dem Mann beunruhigte ihn.
Zwei Schritte vor Charles stoppte Venable. »Ich hab' Sie von der Straße aus geseh'n, Private. Wie heißen Sie?«
Charles versuchte den Akzent einzuordnen. Kein echter Südstaatenakzent, aber ähnlich. Stammte er aus einem der Grenzstaaten? Er sagte: »Charles May, Sir.«
»Das ist eine verdammte Lüge.« Der Offizier riß Charles das Whiskyglas aus der Hand und kippte ihm den Inhalt ins Gesicht.
Allgemeines Geschrei; dann genauso plötzlich allgemeines Schweigen. Whisky tropfte von Charles' Kinn auf den Tresen. Charles wollte den kleinen Gockel niederschlagen, hielt sich aber zurück, weil er nicht wußte, was hier vor sich ging. Er war überzeugt davon, daß es sich um einen Irrtum handelte.
»Captain«, begann er.
»Sie reden mich mit Colonel an. Und machen Sie sich nicht die Mühe, noch weiter zu lügen. Ihr Name ist nicht May. Sie heißen Charles Main. Sie gingen 1857 von West Point ab, zwei Jahre vor mir. Sie und dieser verfluchte Reb Fitz Lee waren so miteinander.« Der Offizier hielt zwei Finger hoch. Sofort verband sich mit dem bärtigen Gesicht eine Vergangenheit, an die sich Charles erinnerte. Er bluffte. »Sir, Sie irren sich.«
»Den Teufel tu' ich. Sie erinnern sich an mich, und ich erinnere mich an Sie. Henry Venable. Kentucky. Sie haben mich viermal wegen eines nicht aufgeräumten Zimmers zum Rapport gemeldet.«
Selbst Hazen in seinem Rausch kriegte das mit. Er wischte sich die Nase und rief seinen Freunden zu: »Hab' ich's euch nicht gesagt? Hab' ich's nicht gerochen?« Er trat einen Schritt von der Bar zurück, für den Fall, daß Charles zum Ausgang zu rennen versuchte.
Charles wußte nicht, wie er friedlich aus der Klemme herauskommen sollte. Weitere Erinnerungen kehrten zurück, einschließlich Venables Spitznamen >Handsome<, >der Gutaussehendes für gewöhnlich voller Sarkasmus ausgesprochen. Niemand mochte den kleinen Bastard. Er war zu korrekt, ein fanatischer Perfektionist.
»Sie mußten lügen, um wieder zur Kavallerie zu kommen«, sagte Venable. »West-Point-Absolventen sind von der Amnestie ausgeschlossen.«
»Colonel, ich muß von irgendwas leben. Ich kenne nur den Soldatenberuf. Ich stünde in Ihrer Schuld, wenn Sie übersehen könnten ...«
»Verrat übersehen? Ich will Ihnen mal was sagen. Es waren Männer von Ihrer Seite - John Hunt Morgans Männer -, die die Farm meiner Mutter überfielen, während ich in General Shermans Stab diente. Diese Männer trieben unser Vieh weg, brannten Haupthaus und Nebengebäude nieder, stachen meine Mutter mit Säbeln nieder und begingen«, er errötete und senkte die Stimme, »sexuelle Greueltaten an meiner zwölfjährigen Schwester. Gott weiß, wie viele Male. Dann töteten sie sie mit drei Kugeln.«
»Colonel, es tut mir leid, aber ich bin nicht für jeden konfö-derierten Partisanen verantwortlich, genausowenig wie Sie für Shermans Landstreicher verantwortlich sind. Das mit Ihrer Familie tut mir aufrichtig leid, aber .«
Venable knallte Charles die Hand auf die Schulter.
»Hören Sie auf, wie ein verdammter Papagei ständig >es tut mir leid< zu sagen. Daß es Ihnen leid tut, damit wird die Rechnung nicht beglichen.«