Was mit ihm geschah, das begriff er manchmal, war genau das, was mit seinem Bruder und Tausenden von anderen Männern geschehen war; mächtige, unvertraute Emotionen im Kielwasser der Kapitulation. Alpträume. Gedanken an Freundschaften, geformt in der seltsam schwindelerregenden Atmosphäre des allgegenwärtigen Todes. Erinnerungen an gute Männer, dahingemetzelt in sinnlosen Scharmützeln, und an Narren und bleiche, zitternde Feiglinge, die durch Zufall oder durch vorgetäuschte Krankheit am Abend vor der Schlacht überlebten .
Was George und was Amerika zugestoßen war, das war ein vierjähriger Kampf, wie ihn die Welt nie zuvor erlebt hatte. Nicht nur hatte Cousin den Cousin, Bruder den Bruder getötet - das war nicht neu -, sondern die mechanisierten Waffen, die Eisenbahn, der Telegraph hatten der Kunst des Dahinschlach-tens eine neue Effektivität verliehen. Auf Wiesen und Auen und in malerischen Schluchten hatten Unschuldige den ersten modernen Krieg ausgefochten.
Es war ein Krieg, der sich nun hartnäckig weigerte, George aus seinen Fängen zu entlassen. Constance sah das in den schmerzerfüllten, verlorenen Augen ihres Mannes, als der Zweispänner die Serpentinenstraße hoch auf Belvedere zufuhr, ihr Herrenhaus oben auf dem Hügel. Sie wollte ihn berühren, aber sie spürte, daß sein Schmerz jenseits ihrer Reichweite lag - vielleicht jenseits jeglicher Berührung.
George verbrachte den Nachmittag in den Hazard-Werken. Die Firma hatte sich von der Kriegsproduktion fast vollkommen umgestellt auf die Fabrikation von Schmiedeeisen für architektonische Verzierungen, Gußeisenteile für andere Produkte und -vielleicht das wichtigste von allem - Eisenbahnschienen. Fast alle Eisenbahnlinien des Südens waren zerstört. Und im Westen hatten zwei Linien einen weiteren gewaltigen Markt geschaffen. Die Union Pacific entlang der Platte-Route und die Union Paci-fic, Eastern Division, Kansas - zwischen denen es trotz der ähnlichen Namen keine Verbindung gab -, lieferten sich ein Wettrennen auf den hundertsten Meridian zu. Derjenige, dessen Schienen den Meridian zuerst erreichte, gewann damit das Recht auf den Ausbau des restlichen Weges und die Verbindung mit der Central Pacific, die von Osten her auf Kalifornien zu baute.
George kam erst nach Hause, als die Familie bereits zu Abend gegessen hatte und nun um ihren neuen Schatz herumsaß, ein großes Piano, das Henry Steinweg und Söhne aus New York als Geschenk geschickt hatten. Hazards lieferte einen Großteil der Eisenbleche für die Pianos der Firma, die Steinways genannt wurden, da Steinweg den Namen für wohlklingender, kommerzieller und amerikanischer hielt. Steinweg hatte einen langen Weg hinter sich. Er kam von den blutigen Schlachtfeldern von Waterloo, wo er gegen Napoleon gekämpft hatte. George mochte ihn.
Er begrüßte die Familie. In der Küche fand er einige kalte Scheiben Fleisch; mehr brauchte er nicht zum Abendessen. Er setzte sich auf die Veranda, stellte einen Fuß aufs Geländer und schrieb Kommentare zu dem Bauplan eines Architekten für eine neue Gießerei, die er in Pittsburgh bauen wollte. Die Stadt, an zwei Flüssen gelegen, die in den Ohio mündeten, würde mit Sicherheit innerhalb der nächsten zehn Jahre zum Eisen- und Stahlzentrum der Nation werden. George wollte da schon im Anfangsstadium dabeisein.
George arbeitete, bis das Augustlicht verblaßte. Nebenan sah er die Laterne der Haushälterin durch die lakenverhängten Räume von Stanleys und Isabels Haus schweben. Die Besitzer waren selten anwesend. George vermißte sie nicht.
Er stellte einige mathematische Berechnungen an, bei denen es um ein Stück Land ging, das er für die neue Fabrik in Erwägung zog. Viermal erhielt er ein falsches Ergebnis und warf schließlich die Papiere beiseite. Die vage, verschwommene, aber doch umfassende Melancholie überfiel ihn erneut. Er kam sich alt und verbraucht vor, als er ins Haus schlenderte.
In der leeren Bibliothek blieb er stehen. Hinter ihm öffnete sich eine Tür. »Ich glaubte dich hier gehört zu haben.« Als Constance seine Wange küßte, roch er die angenehme Süße von Schokolade. Sie hatte ihr rotes Haar hochgesteckt, ihr rundliches Gesicht leuchtete frisch gewaschen.
Sie musterte ihn. »Was ist los, Liebster?«
»Ich weiß nicht. Ich fühle mich so verdammt elend, ohne daß ich dir den Grund dafür sagen könnte.«
»Einige Gründe kann ich vermuten. Dein Bruder ist auf dem Weg nach der anderen Seite des Kontinents, und du fühlst dich wahrscheinlich wie diese beiden Männer, von denen du mir erzählt hast. Die Männer im Willard-Hotel, die sich eingestanden, daß sie die Aufregung des Krieges vermissen.«
»Ich würde mich schämen, einzugestehen, daß ich es vermisse, menschliche Wesen zu töten.«
»Nicht das Töten. Ein erhöhtes Lebensgefühl, als würde man am Rande eines Abgrunds wandeln. Man braucht sich nicht zu schämen, das zuzugeben, wenn es der Wahrheit entspricht. Das Gefühl wird vorübergehen.«
Er nickte, ohne es zu glauben. Dieses an Verzweiflung grenzende Gefühl schien übermächtig.
»In ein paar Wochen wird es hier noch leerer werden«, sagte er. »William fängt in Yale an, und Patricia geht wieder zurück nach Bethlehem ins Internat.«
Mit ihrem kühlen Handrücken strich sie ihm über das bärtige Gesicht. »Eltern sind immer traurig, wenn ihr Nachwuchs das erste Mal ausfliegt.« Sie nahm seinen Arm. »Komm, machen wir einen kleinen Spaziergang. Das wird dir guttun.«
Im heißen Abendwind stiegen sie den Hügel hinter Belvedere hoch. Links unter ihnen warfen die Hochöfen und Hallen und Lagerhäuser der Hazard-Werke ihren roten Glanz gen Himmel.
Unerwartet führte sie ihr Weg an einen Ort, den Constance gern vermieden hätte, weil er ein Symbol für Enttäuschung und Verzweiflung war. Sie befanden sich an dem großen Krater, den ein Meteorit im Frühjahr 1861 geschlagen hatte, genau zu Kriegsbeginn.
George beugte sich über den Kraterrand und spähte hinunter. »Kein Grasblatt, noch nicht mal Unkraut. Ob die Erde vergiftet ist?« Er blickte den hügelauf führenden Pfad hoch. »Ich nehme an, hier ist Virgilia in der Nacht, in der sie das gesamte Silber aus dem Haus stahl, entlanggegangen.«
»George, es hilft nichts, sich bloß an die schlimmen Dinge zu erinnern.«
»Was gibt's denn sonst noch, verdammt noch mal? Orry ist tot. Tom Hassler marschiert durch die Straßen mit einem Verstand, der nie mehr in Ordnung kommen wird. Wir haben nicht hart genug gegen den Kriegsausbruch gekämpft, und nun haben wir die ganze verfluchte Sauerei geerbt. Es heißt, daß die Sache des Südens verloren ist. Nun, das trifft auch auf Amerika zu. Und auf unsere Familie. Und auf mich.«
Der Schlot schoß Funkenschauer in den Nachthimmel. Constance hielt ihn fest umarmt. »Oh, ich wünschte, ich könnte diese Gefühle vertreiben. Ich wünschte, du wärst nicht so schrecklich verletzt.«
»Es tut mir leid. Ich schäme mich selbst dieser Gefühle. Es ist nicht sehr männlich.« Eine unterdrückte Verwünschung murmelnd, vergrub er sein Gesicht in der warmen Beugung ihres Halses. Sie hörte ihn sagen: »Irgendwie kann ich nichts dagegen tun.«
Lautlos betete sie zu dem Gott, an den sie so innig glaubte. Sie bat Ihn, die Bürde ihres Mannes zu erleichtern und die düsteren Schatten von seinem Geist zu nehmen. Sie flehte Ihn an, George keine neue Last, wie klein auch immer, aufzuladen. Sie fürchtete um George.
Schweigend hielten sie sich umarmt; so standen sie eine lange Zeit auf dem verlassenen Hügel neben dem Krater.
MADELINES JOURNAL
August 1865. Sie ist da! Miss Prudence Chajfee aus Ohio.
Sie ist dreiundzwanzig, sehr robust, stammt aus einer Farmerfamilie und bezeichnet sich ohne Selbstmitleid als schlichte, unscheinbare Person. Es stimmt. Ihr Gesicht ist rund, sie ist kräftig und untersetzt. Doch jedes Wort von ihr, jeder Ausdruck ist von einem wunderbaren Glühen durchdrungen. Das hat nichts mit unmöglicher Perfektion zu tun, sondern mit Hingabe - das innere Glühen jener seltenen Menschen, nach deren Dasein die Welt etwas besser geworden ist.