„Es gibt welche, zum Beispiel die Mutterliebe.“
„Wieso?“
„Es wird der Mutter gesagt, daß ihr Kind getötet werden soll, daß sie es nur dadurch retten kann, daß sie selbst in den scheinbaren Tod geht.“
„Das wäre schrecklich! Aber warum nicht in den wirklichen Tod? Warum läßt man sie leben?“
„Es muß noch Gründe geben, wenn es mir auch jetzt noch unmöglich ist, darüber klar zu werden.“
„Monsieur Müller, je länger ich Sie höre, desto mehr muß ich mir denken, daß Sie recht haben können. Aber der Gedanke, daß meine Mutter noch lebt, ist so ungeheuerlich, daß es mir doch beinahe unmöglich wird, ihn zu fassen.“
„Mir ist er geradezu Gewißheit.“
„Dann wäre der Kapitän ein Teufel.“
„Das ist er. Ich habe zum Beispiel die Ahnung, daß da unten Gefangene stecken, welche bereits lange, lange Jahre das Licht der Sonne nicht mehr gesehen haben.“
„Fürchterlich! Aber, Monsieur, wenn es wahr ist, daß meine Mutter noch lebt, so ist es meine heiligste Pflicht, sie aus den Banden zu befreien, in denen sie schmachtet.“
„Ich habe mir bereits diese Aufgabe gestellt.“
„Ich danke Ihnen! Sie sind ein ungewöhnlicher, außerordentlicher Mann. Glauben Sie, Erfolg zu haben?“
„Ich hoffe es.“
„Und dennoch darf ich diese Aufgabe nicht allein in Ihren Händen lassen. Wollen Sie mir erlauben, mitzuwirken?“
„Oh, gern!“
„Nun gut, seien wir Verbündete und Vertraute! Hier ist meine Hand. Verschwören wir uns gegen den Kapitän. Bitte, schlagen Sie ein!“
„Topp, gnädiges Fräulein! Ihre Hilfe wird mir jedenfalls von großem Vorteil sein.“
„Ich wünsche und hoffe es. Zunächst gilt es, zu erfahren, ob jene Erscheinung im alten Turm ein Geist oder ein körperliches Wesen ist.“
„Ich bin bereits überzeugt, daß sie das letztere ist.“
„Aber auch ich will diese Überzeugung haben!“
„Sie hätten diese bereits, wenn Sie mir nach jenem Gewitter erlaubt hätten, dem vermeintlichen Geist nachzugehen.“
„Ja, ich habe diesen Fehler begangen; aber ich wußte da noch nicht, was ich jetzt weiß. Er muß gutgemacht werden. Aber in welcher Weise soll das geschehen?“
„Es ist nur eins möglich: Wir müssen diesen Geist aufsuchen.“
„Gewiß! Wir müssen in jene unterirdischen Gänge eindringen, und zwar baldigst.“
„Das wird geschehen, sobald der Pflanzensammler wieder zurückgekehrt ist.“
„Warum das?“
„Ich habe ihm versprochen, so lange zu warten.“
„Hätten Sie das doch nicht getan! Nun ich einmal denken muß, daß meine Mutter noch lebt, möchte ich keinen einzigen Augenblick unnütz verstreichen lassen.“
„Ich muß Sie dennoch um Geduld bitten. Ich bedarf der Hilfe meines Verbündeten. Er ist stark und mutig. Ohne ihn darf ich es nicht wagen, in jene Gewölbe einzudringen. Es gibt da Gefahren, von denen man vorher keine Ahnung haben kann. Ein einzelner kann verloren sein, während die Anwesenheit eines zweiten ihn zu retten vermag.“
„Gut. Ich muß mich fügen, denn ich erkenne Ihre Gründe an. Aber was veranlaßt denn eigentlich diesen Monsieur Schneeberg, sich für Schloß Ortry so zu interessieren, daß er sich selbst in solche Gefahren wagt?“
„Vielleicht die Freundschaft zu mir, vielleicht auch die Feindschaft gegen Rallion.“
„Gegen Rallion? Was hat er mit diesem?“
„Er hatte bereits ein Renkontre mit den beiden Grafen, infolgedessen beide verwundet wurden.“
„Verwundet? Geschah das nicht durch eine Sense?“
„Nein, es geschah durch Schneebergs Messer.“
„Wieder ein neues Geheimnis!“
„Ja, meine Gnädige, es gibt hier Geheimnisse ohne Ende; aber wir werden zu gegebener Zeit die Rätsel alle lösen. Doch es wundert mich, daß der Kapitän noch nicht erschienen ist. Seit ich ihn belauschte, ist bereits über eine Stunde verflossen.“
„Vielleicht haben Sie sich getäuscht?“
„Schwerlich.“
„Man hat etwas ganz anderes gemeint!“
„Nein, nein! Ich habe Wort für Wort verstanden. Es könnte höchstens der Fall sein, daß ich mich in der Zeit getäuscht hätte.“
„Wieso?“
„Daß man Sie erst morgen und nicht bereits heute überfallen will.“
„Meinen Sie? Dann also würden wir uns heute ohne allen Grund geängstigt haben.“
„Ich möchte allerdings nun annehmen, daß das Vorhaben auf morgen verschoben worden ist. Die beiden Männer müßten nun bereits da sein. Ich werde mich überzeugen.“
Er wollte sich erheben. Sie hielt ihn zurück und fragte:
„Wie wollen Sie das anfangen?“
„Ich gehe auf dem heimlichen Weg nach dem Schlafzimmer Rallions.“
„Aber wenn jene Ihnen begegnen? Das ist doppelt gefährlich!“
„Nein. Sie würden Licht haben, welches ich von weitem sehen müßte. Ich könnte mich also rechtzeitig zurückziehen. Also bitte ich, es mir zu erlauben!“
„Sie kommen aber wieder zurück?“
„Jedenfalls.“
„Gut! Also gehen Sie – oder, ah, ich bin nun doch Ihre Verbündete; darf ich mit?“
Er besann sich einen Augenblick und antwortete dann:
„Das ist gefährlich. Sie würden sich nicht so schnell zurückziehen können, wie es nötig ist.“
„Was schadet das? Ob wir sie hier empfangen, oder ob wir ihnen unterwegs entgegentreten, das bleibt sich gleich. Ich erbitte mir als ein Zeichen Ihres Vertrauens die Erlaubnis, Sie begleiten zu dürfen. Wollen Sie mir diese erste Bitte abschlagen?“
„Wenn Sie ihrem Wunsch diese Form geben, so kann ich Ihnen die Erfüllung desselben allerdings nicht vorenthalten.“
„Ich danke! Also, machen wir uns auf den Weg!“
Sie erhob sich und er auch.
„Aber vorsichtig sein!“ sagte er. „Wollen erst lauschen. Aber, gnädige Baronesse, ich werde von meiner Laterne Gebrauch machen müssen!“
„Tun Sie das. Mich inkommodiert es nicht!“
„Begeben wir uns also in das Wohnzimmer.“
Er nahm die Laterne aus der Tasche, öffnete sie und leuchtete. Der Baronesse voranschreitend, trat er in das Wohnzimmer. Dort lehnte der Sonnenschirm noch an seiner Stelle.
„Hier ist der geheime Eingang“, sagte er, nach der Stelle zeigend und sich dabei rückwärts wendend.
Jetzt sah er Marion beim Schein der Laterne. Wie schön, wie wunderbar schön war sie! Sie hatte vorhin im Dunkel ihr Morgennegligé angelegt. So hatte er sie noch nie gesehen.
„Also hier dieses Täfelwerk!“ sagte sie. „Wer hätte das geahnt! Wie öffnet man?“
„So!“
Er entfernte den Schirm und schob dann leise das Getäfel zur Seite. Sie bückte sich und griff nach der Laterne.
„Leuchten wir hinaus!“ sagte sie.
„O bitte, nein!“ entgegnete er. „Erst muß ich mich vergewissern, daß wir nicht überrascht werden.“
Er schloß die Laterne und kroch hinaus. Draußen lauschte er. Es war kein verdächtiger Laut zu hören. Er stieg im Finstern die Stufen hinab, immer weiter, bis er in den Haupteingang gelangte. Als er auch da nichts Verdächtiges bemerkte, war er überzeugt, daß er es wagen könne, Marion mitzunehmen. Er kehrte also zurück.
Sie war unterdessen unruhig geworden.
„Wie lange Sie weg waren“, sagte sie. „Ich begann bereits, sehr besorgt um Sie zu werden.“
„Ich wollte mich überzeugen, ob wir auf eine Begegnung gefaßt sein müssen.“
„Ist das der Fall?“
„Wenigstens jetzt noch nicht. Der Kapitän ist entweder bei Rallion, oder er hat das Unternehmen für morgen festgesetzt und befindet sich bereits in seinem Zimmer.“
„Also gehen wir.“
Sie folgte ihm mutig hinaus auf den engen Gang. Sie begannen ihre Wanderung. Damit sie den Weg deutlich erkennen möge, ging er, ihr leuchtend, nach ihr. Er hatte sie vor Augen. Sie kam ihm vor wie ein Wesen aus einer anderen Welt.