Sie gelangten hinunter in den Gang. Dort blieb er stehen, ließ das Licht der Laterne im Kreis gehen und sagte:
„Sie sehen diese Anzahl heimlicher Treppen. Die Wände dieses Hauses sind doppelt, und zwischen ihnen führen Stufen nach allen Zimmern. Hier rechts, diese Treppe geht nach der Wohnung des Amerikaners, dieselbe, in welcher der Direktor ermordet wurde.“
„Da hinauf sind Sie damals gestiegen?“
„Ja.“
Ihr Auge glitt aus dem Dunkel in den Lichtkreis zurück. Sie schauderte zusammen.
„Ein Mord! Gott, ich fürchte mich.“
Marion stand neben Müller; sie schmiegte sich unter dem Einfluß des Gefühles, welches sie überkam, eng an ihn, so daß er ihre weichen, warmen Formen deutlich fühlte.
„Wollen wir zurückkehren?“ fragte er.
„Nein“, antwortete sie. „Es muß zwar schrecklich sein, in diesen finsteren Gängen überrascht und überfallen zu werden; aber ich will mich nicht fürchten; Sie sind ja bei mir! Was tun wir jetzt?“
„Das sicherste ist, das Zimmer des Kapitäns aufzusuchen, um zu sehen, ob er dort ist.“
„Gut! Gehen wir! Wissen Sie, wo es ist?“
„Ja. Bitte, hier links hinauf.“
Sie stiegen empor, leise und langsam, er voran leuchtend, und sie ihm folgend. Als er endlich stehenblieb, legte er den Finger auf den Mund, zum Zeichen, daß sie nicht sprechen solle. Am Boden erblickte Marion ein Fachwerk, gerade wie bei ihrer eigenen Wohnung. Mehrere Stufen höher gab es ein kleines, rundes Loch in der Mauer. Da hinauf stieg Müller. Nach wenigen Augenblicken kam er herab und raunte ihr ins Ohr:
„Bitte, blicken Sie durch dieses Loch! Aber, um Gottes willen, ja nicht das mindeste Geräusch.“
Sie stieg die Stufen empor. Vor dem Loch war eine Glastafel, in welche Figuren gemalt waren. Diese Tafel war in die Tapetenborde eingesetzt, so daß man sie im Zimmer nicht von der letzteren unterscheiden konnte. Zwischen den Figuren hindurch konnte man den Raum überblicken. Es war die Stube des Kapitäns. Marion sah ihn schreibend am Tisch sitzen. Sie stieg wieder herab.
„Er ist zurückgekehrt“, flüsterte sie. „Ich habe also heute den Überfall wohl nicht zu erwarten?“
„Nun nicht mehr. Bitte, gehen wir!“
Sie kehrten auf demselben Weg wieder nach Marions Wohnung zurück. Nachdem Müller das Getäfel verschlossen hatte, sagte sie:
„Jetzt darf ich Licht machen, und dann wollen wir beraten, was für morgen zu tun ist.“
Er löschte seine Laterne aus. Sie brannte die Lampe an, und dann nahmen sie am Tisch platz.
„Es ist doch eine entsetzliche Raffinesse, solche Gänge und Gucklöcher herzustellen“, sagte sie. „Gibt es auch in meiner Wohnung ein solches Loch, Monsieur?“
„Ja“, antwortete er. „Haben Sie es vorhin nicht beachtet?“
„Nein. Aber, so hat mich der Kapitän zu jeder Zeit beobachten können?“
„Gewiß!“
„Und ich habe nichts gewußt! Wie schrecklich! Wo ist es?“
„Da oben über der Uhr.“
„Nicht im Schlafzimmer?“
„Nein. Dort gibt es kein solches verräterisches Loch.“
„Das beruhigt mich. Von jetzt an also werde ich mich so einzurichten haben, daß ich stets ohne Schaden beobachtet werden kann. So hört man wohl auch, was gesprochen wird?“
„Jedes Wort.“
„Das ist noch schlimmer. Nun erst begreife ich, wie der Kapitän alles, alles wissen konnte, so daß er fast allwissend zu sein schien. Gibt es auch bei Ihnen einen Eingang?“
„Nein, aber ein Beobachtungsloch.“
„Wie haben Sie es entdeckt?“
„Gleich am ersten Tag meiner Anwesenheit. Ich befand mich ruhig in meinem Zimmer und hörte an der Wand ein Geräusch. Das hat den Kapitän verraten.“
„So müssen also auch Sie stets auf der Hut sein.“
„Gewiß, zumal er mir nicht traut. Doch, wir wollten ja von morgen sprechen.“
„Ja. Sie meinen also, daß die beiden morgen kommen werden?“
„Ich glaube nicht, daß sie länger warten werden.“
„Was soll ich tun? Wie soll ich sie empfangen?“
„Hm! Sie werden erschrecken, entdeckt zu sein, aber sie werden sich sofort fassen und irgendein Märchen ersinnen, um ihr Erscheinen plausibel zu machen.“
„Sie meinen, Monsieur, daß man sich nicht an mir vergreifen wird?“
„Das wird man unterlassen. Der Streich kann ja nur dann gelingen, wenn man Sie im Schlaf antrifft, so daß man sie betäuben kann, ehe Sie um Hilfe rufen.“
„Ah! So werden sie ihre Absicht nicht eingestehen.“
„Keinesfalls.“
„Das glaube ich auch. Sie werden eine Ausrede erfinden. Und das genügt mir nicht. Ich möchte sie bei der Tat ertappen, so daß ich ihnen ihre Schlechtigkeit beweisen kann.“
„Das ist das beste, auch meiner Ansicht nach.“
„Aber, wie soll man das anfangen?“
„Es hat allerdings seine Schwierigkeit“, sagte er.
Und nach einer Pause des Nachsinnens fuhr er fort:
„Die beiden werden mit Licht kommen, aber sie dürfen das nicht mit in Ihr Zimmer nehmen. Sie werden also ihr Werk im Dunkeln ausführen.“
„Wahrscheinlich.“
„Das bringt mich auf einen Gedanken. Ihre Zofe hat ungefähr dieselbe Figur wie Sie, gnädiges Fräulein –“
„Ah! Sie meinen?“ fiel sie schnell ein.
„Wenn diese Zofe an Ihrer Stelle –!“
Marion nickte ihm zustimmend zu.
„Gewiß, gewiß!“ sagte sie. „Das könnte gehen.“
„Das Schwierige dabei ist, einen Grund zu finden, daß die Zofe in Ihrem Zimmer schlafen soll.“
„Oh, einen Vorwand werde ich sicher finden, und wenn ich sagen sollte, daß es sich um einen Scherz handle.“
„Wohl! So wird man also dieses Mädchen chloroformieren und fortschaffen.“
„Man wird sie jedenfalls gleich wiederbringen, da man beim ersten Lichtstrahl, welcher auf die Arme fällt, den Irrtum doch sofort bemerken muß.“
„Gewiß. Und wenn sie die Zofe wiederbringen, so ist das der richtige Augenblick, ihnen zu sagen, daß sie durchschaut sind. Sie können dann ihre Absicht nicht leugnen.“
„Ja, ich werde beide niederschmettern und an dieser Genugtuung, die ich nur Ihnen verdanke, sollen Sie auch teilnehmen.“
„Ich soll zugegen sein?“
„Ja.“
„Das wird wohl kaum zu bewerkstelligen sein.“
„Warum?“
„Weil nur die Zofe allein sich hier befinden darf.“
„Ich verstehe. Aber, bitte, kommen Sie einmal.“
Sie ergriff das Licht und führte ihn nach dem Schlafgemach. Es gab da eine schmale Glastür, deren Fenster mit einer Gardine verhangen war.
„Sehen Sie diese Tür?“ fragte sie.
„Gewiß!“ lächelte er.
„Das ist mein Garderoberaum. Wir verbergen uns darin, Sie und ich.“
„Hm! Wenn sie nun hineinblicken.“
„Wir verschließen von innen.“
„Das könnte auffallen!“
„O nein. Warum sollte das Verdacht erregen?“
„Auch würde die Zofe nicht einschlafen, wenn sie wüßte, daß wir uns in der Garderobe befinden.“
„Sie wird nichts davon erfahren. Wir verbergen uns hier, bevor sie schlafen geht.“
„Dann ist allerdings das Gelingen möglich. Wo aber treffen wir uns gnädiges Fräulein?“
„Sie tun, als ob Sie schlafen gehen, kommen aber kurz nach zehn Uhr hierher zu mir, natürlich heimlich. Das übrige aber überlassen Sie mir. Ich werde das Arrangement schon zu treffen wissen.“
„Gut, ich werde Ihnen gehorchen. Natürlich verhalten wir uns tagsüber so, als ob wir gar nichts ahnten.“
„Das ist unumgänglich notwendig. Also, Sie denken nicht, daß ich einen Besuch zu erwarten habe?“
„Auf keinen Fall. Ich werde für Sie wachen.“
„Und ich sehe ein, daß meine Schuld Ihnen gegenüber immer größer wird. Welch ein Unglück für mich, wenn Sie nicht nach Ortry gekommen wären.“