Sie reichte ihm beide Hände entgegen. Er ergriff dieselben. In seinen Augen glänzte es feucht.
„Gnädiges Fräulein, befehlen Sie, so gehe ich für Sie in den Tod!“ sagte er mit zitternder Stimme.
„Nein, mein Lieber, nicht in den Tod!“ antwortete sie. „Sie sind ein seltener Mann. Man sollte gar nicht meinen, daß Sie ein Gelehrter sind. Sie müssen leben, leben und glücklich sein!“
Ihr Busen hob sich unter einem tiefen Atemzug. Es war ihm, als ob er sie jetzt erringen könne, wenn er ein Wort zu ihr sage; aber wäre es edel gewesen, ihre Dankbarkeit in dieser Weise auszubeuten? Nein! Er schüttelte leise den Kopf und antwortete:
„Dank, gnädiges Fräulein. Ihre Worte sind mir mehr wert, als alle Reichtümer der Welt. Wollte Gott, ich könnte noch viel mehr für Sie tun, als ich bisher für Sie tun durfte! Halten wir also treue Kameradschaft! Und gelingt es mir, die Ihnen drohende Gefahr abzuwenden, so bin ich mehr als reich belohnt.“
Sie hatte sich halb abgewendet gehabt; jetzt drehte sie sich ihm wieder zu und sagte:
„Ja, Sie sind ebenso edel wie uneigennützig. Ich blicke bis in die Tiefe Ihres Herzens hinab. Also treue Kameradschaft. Gut, verlassen wir einander nicht! Aber jetzt, jetzt können wir uns wohl gute Nacht sagen?“
„Gewiß. Sie haben nichts zu befürchten.“
„Gut. Schlafen Sie wohl, mein lieber Kamerad! Suchen auch Sie Ruhe, denn morgen werden wir wohl auf den Schlaf verzichten müssen!“
Sie reichte ihm die Hand.
„Noch eins!“ bat er. „Darf ich einen Wunsch aussprechen?“
„Gewiß! Reden Sie!“
„Bitte, wagen Sie sich jetzt noch nicht ohne meine Begleitung in die geheimen Gänge! Sie werden die Gründe begreifen, welche mich zu dieser Bitte veranlassen.“
„Sie haben recht. Ich verspreche Ihnen, nichts zu tun, ohne es Ihnen vorher gemeldet zu haben.“
„Das beruhigt mich! Gute Nacht, gnädige Baronesse!“
„Gute Nacht, Monsieur!“
Er ging. Draußen, als er den Eingang verschlossen hatte, blieb er überlegend stehen.
„Hm!“ dachte er. „Gewiß ist gewiß! Ich werde die Riegel vorschieben. Ah, ich hätte das ja so auch tun müssen, denn ich habe sie ja vorgeschoben vorgefunden.“
Nun begab er sich zuletzt nochmals an das Zimmer des Kapitäns. Er kam gerade recht, um zu sehen, daß dieser sich zum Schlafengehen entkleidete.
„Schön“, dachte er. „So brauche ich nicht zu wachen. Es ist nun ganz sicher, daß heute gegen Marion nichts unternommen wird.“
Jetzt nun suchte er die Treppe wieder auf, welche in das Gemach des Amerikaners führte. Dieser saß, als er bei ihm eintrat, am Tisch. Er hatte das Licht brennen.
„Endlich“, sagte Deep-hill. „Wie lange habe ich auf Sie warten müssen!“
„Ich konnte nicht eher.“
„Ich dachte bereits, daß Sie nicht kommen würden.“
„Oh, ich pflege mein Wort zu halten, hatte aber leider eine Verhinderung, die ich nicht vorhersehen konnte.“
„Bitte, nehmen Sie Platz. Hier sind Zigarren.“
Müller steckte sich eine an. Der Amerikaner sah ihm dabei zu und sagte dann:
„Wissen Sie was Sie sind?“
„Nun?“
„Erstens mir ein Rätsel.“
„Und zweitens?“
„Und zweitens ein außerordentlicher Mann.“
„Danke, Master Deep-hill!“
„Was Sie voraussahen, ist eingetroffen.“
„Ich wußte es.“
„Aber, erklären Sie mir, wie Sie das eben wissen konnten.“
„Ich hatte es einfach berechnet.“
„Aber doch nur auf Grund gewisser Beobachtungen und Erfahrungen, welche Sie hier bereits gemacht haben.“
„Allerdings!“
„Ich möchte einmal ein wenig unbescheiden sein.“
„Versuchen Sie es.“
„Darf ich fragen, welche Erfahrungen es sind, die Sie in den Stand setzen, so genaue Berechnungen zu machen?“
„Ich möchte Ihnen antworten. Monsieur, darf aber nicht.“
„Sie haben kein Vertrauen zu mir?“
„Vorsicht ist nicht gleichbedeutend mit Mangel an Vertrauen.“
„Ich gebe das zu und muß mich also in Ihre Weigerung fügen. Es kommt mir hier verschiedenes unbegreiflich vor, eins aber ist mir sehr begreiflich, nämlich daß Sie es mit mir aufrichtig gemeint haben.“
„Das ist allerdings der Fall. Sie glauben also nun meiner Warnung?“
„Vollständig! Ich halte diesen alten Kapitän Richemonte für einen Schurken.“
„Damit werden Sie wohl keinen Irrtum begehen.“
„Ich glaube ferner, daß er bei der Entgleisung des Zuges die Hand mit im Spiel hatte.“
„Ich habe keine Veranlassung, das zu bestreiten.“
„Ja, gewiß! Sie wissen jedenfalls weit mehr, als Sie sagen wollen. Aber wie kann man es dem Kapitän beweisen?“
„Das muß ich Ihnen überlassen.“
„Die Täter sind entkommen, sonst würde man sie zum Geständnis zwingen.“
„Vielleicht ergreift man sie noch.“
„Darauf möchte ich nicht warten. Es gibt noch einen anderen Weg, die Urheberschaft Richemontes zu beweisen.“
„Ich wäre neugierig, dies zu erfahren.“
„Ich wurde gerettet durch einen Herrn, der sich mit im Coupé befand –“
„Ah, der Pflanzensammler.“
„Ja. Kennen Sie ihn?“
„Alle Welt kennt ihn.“
„Er hat die Täter im Wald belauscht.“
„Auch den Kapitän?“
„Nein. Aber aus dem, was er gehört hat, geht vielleicht die Mitschuld des Alten hervor.“
„Nun, so fragen sie ihn.“
„Der Mann ist leider nicht zu haben. Wie ich erfuhr, hat er den nächsten Zug zu einer Reise benutzt.“
„Jedenfalls kommt er wieder.“
„Ich hoffe es und bin also gezwungen, auf ihn zu warten. Bis dahin aber werde ich Sie ersuchen, mir Ihre Teilnahme nicht zu entziehen.“
„Ich stelle mich Ihnen zur Verfügung und bin, soweit es in meinen Kräften steht, zu Diensten bereit.“
„So sagen Sie mir aufrichtig, was ich von dem Kapitän zu befürchten habe.“
„Ich ziehe vor, Ihre eigene Meinung zu hören“, antwortete Müller vorsichtig.
„Nun, ich bin jetzt überzeugt, daß er sich in den Besitz meines Geldes setzen will.“
„Das glaube ich ebenfalls.“
„Und zwar durch ein Verbrechen.“
„Vermutlich!“
„Einen Mord?“
„Ich widerstreite Ihnen nicht.“
„So wäre es eigentlich am besten, ich entfernte mich einfach.“
„Einen besseren Rat kann auch ich Ihnen nicht geben.“
„Aber das widerstreitet meinem Charakter. Dieser alte Bösewicht soll sich in seiner eigenen Schlinge fangen.“
„Ich möchte Sie sehr zur Vorsicht mahnen.“
„Pah! Nun ich gewarnt bin, habe ich nichts mehr zu fürchten. Ich werde den Unbefangenen spielen.“
„Bis Sie der Gefangene werden!“
„Keine Sorge! Ich bin empört über ihn. Ich komme über die See herüber, um seiner Sache zu dienen, und aus Erkenntlichkeit dafür will er mich morden! Wenn dies keine Strafe verdient, dann braucht überhaupt nichts bestraft zu werden. Noch habe ich keinen Beweis gegen ihn in den Händen; ich werde mir aber solche Beweise verschaffen, selbst wenn ich dabei auf fremde Hilfe verzichten müßte.“
„Wie wollen Sie das beginnen?“
„Indem ich ihm scheinbar vertraue.“
„Glauben Sie wirklich, ihn täuschen zu können?“
„Ich kenne mich; ich werde es fertigbringen.“
„Oh, er ist ein schlauer Fuchs!“
„Selbst der Fuchs geht ins Eisen! Ich werde ganz so tun, als ob ich auf seine Absichten eingehe.“
„So sind Sie verloren.“
„O nein! Ich brauche nur meine Anweisungen nicht zu unterschreiben, so bin ich sicher, daß mir nichts geschieht.“