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Sie schlichen sich nach dem Schlafzimmer, wo der Graf bald die zurückgelassenen Kleidungsstücke der Zofe fand. Er brauchte nicht lange zu warten, so raunte der Alte ihm zu:

„Fort. Ich habe sie.“

Von der Möglichkeit, belauscht zu werden, hatten sie keine Ahnung. Draußen angekommen, schob der Alte die Täfelung mit dem Fuß zu und dann stiegen sie langsam die Treppe hinab.

Es war das keineswegs leicht, da der Raum außerordentlich schmal war. Aber der Kapitän besaß trotz seines Alters so viel Körperkraft, daß ihm die Last, welche er trug, nicht übermäßig schwer wurde. Sie gelangten hinunter in den Hauptgang, da, wo die verborgenen Treppen ihren Ausgang nahmen.

„So“, sagte der Alte. „Hier muß ich ein wenig ausruhen.“

„Wohin denn?“

„Es geht jetzt stets zu ebener Erde fort. Gehen Sie hinter mir, und nehmen Sie ein wenig Fühlung, dann können Sie keinen einzigen Fehltritt tun.“

Sie begannen nun die Wanderung, immer in das tiefe Dunkel hinein. Es wurden einige Türen geöffnet. Später fühlte der Graf hölzerne Wände, wie von aufeinanderstehenden Kisten zu seiner Rechten und Linken. Dann blieb der Alte halten.

„Am Ziel“, sagte er.

„Schön! Das war ein verdammtes Avancieren. Wo befinden wir uns jetzt?“

„Das werden Sie nachher sehen.“

„Ist Marion noch betäubt?“

„Ja! Sie hat sich noch nicht bewegt.“

Er legte seine Last zu Boden und öffnete dann eine Tür. Sie drehte sich laut kreischend in den verrosteten Angeln.

„Das ist die Einzelhaftzelle“, sagte er. „Fühlen Sie den Eingang?“

„Ja.“

„Werfen Sie die Kleider hinein. Ich werde unsere Gefangene darauf betten.“

Der Graf gehorchte diesem Gebot. Die Angeln kreischten wieder; mehrere Riegel wurden vorgeschoben, und dann nahm der Alte die Laterne heraus.

„So, jetzt sollen Sie sehen, wo Sie sich befinden“, sagte er, indem er das Licht auf die Umgebung fallen ließ. Es war ganz dasselbe Gewölbe, in welchem Müller sich des Schlüssels bemächtigt hatte.

Dem Grafen war doch ein wenig bange um Marion geworden.

„Sie wird doch nicht etwa erstickt sein?“ sagte er.

„Nein. Sie atmete. Ich bin überzeugt, daß sie in kurzer Zeit zu sich kommen wird.“

„Ich möchte doch sehen, wie sie sich benimmt.“

„Das ist unmöglich. Übrigens können Sie sich leicht denken, wie freudig überrascht sie sein wird, sich in so sicherer Verwahrung zu befinden.“

„Hat sie Essen und Trinken?“

„Nein. Das würde ja ganz und gar gegen unsere Absichten sein.“

„Und wann gehe ich zu ihr?“

„Nicht vor morgen abend. Sie soll ihre jetzige Lage wenigstens vierundzwanzig Stunden lang empfinden. Ich werde übrigens dabeisein, wenn ich mich auch nicht sehen lasse. Kommen Sie jetzt, wir kehren zurück.“

Er führte Rallion denselben Weg zurück, auf welchem sie gekommen waren, und verriegelte dann die Täfelung von außen, um seinem Verbündeten die Möglichkeit eines selbständigen Handelns abzuschneiden. In seinem Zimmer angekommen, war er mit sich selbst sehr zufrieden.

„So“, sagte er zu sich, „was wird sie denken, wenn sie beim Erwachen bemerkt, wo sie sich befindet? Sie wird natürlich sofort ahnen, wer ihr diesen Streich gespielt hat. Das ist der Anfang der Strafe für den Widerstand, den sie mir zu leisten wagte.“

Jetzt nun endlich wechselte er den Anzug und begab sich zum Kutscher hinab, welchen er natürlich zu wecken hatte.

„Das Coupé heraus“, sagte er. „Die gnädige Baronesse wird verreisen.“

Der Mann war einigermaßen verwundert und erkundigte sich:

„Nach dem Bahnhof, gnädiger Herr?“

„Ja. Ich fahre selbst. Du wirst schon hören, wenn ich zurückkehre.“

Der Kutscher führte den Befehl aus. Er schirrte die Pferde ein, spannte sie an und brannte auch die Wagenlaterne an. Der Alte brachte die Dame geführt. Sie war verschleiert. Der Kutscher zweifelte nicht im mindesten daran, daß es die Baronesse Marion sei. Er schloß das Tor auf und verschloß es dann hinter den Fortfahrenden wieder.

Dann kehrte er in seine Kammer zurück und brannte sich eine Pfeife an. Er konnte den nach Thionville führenden Weg von hier aus beobachten und mußte an den Wagenlaternen die Wiederkehr des Alten bemerken. Davon aber, daß nach einiger Zeit die im Tor befindliche kleine Pforte leise geöffnet wurde, bemerkte er nichts. Die Baronin kehrte heimlich in ihre Wohnung zurück. –

Am anderen Morgen sprach es sich sehr schnell herum, daß Baronesse Marion plötzlich habe verreisen müssen. Der Kapitän hielt es für ein Gebot der Klugheit, am Frühstückstisch zu erscheinen, um die Anwesenden mit der Abreise seiner Verwandten bekannt zu machen. Müller nahm die darauf bezügliche Bemerkung schweigend hin, konnte aber doch nicht umhin, einen erwartungsvollen Blick nach der Tür zu werfen.

Diese öffnete sich, als man soeben mit dem Frühstück begonnen hatte – Marion trat ein und grüßte ganz in herkömmlicher Weise.

Der Alte sprang bei ihrem Anblick vom Stuhl auf und starrte mit weitaufgerissenen Augen das Mädchen an.

„Marion. Alle Teufel!“ entfuhr es ihm.

Sie schritt in ruhiger Haltung nach ihrem gewöhnlichen Platz und fragte verwundert:

„Was ist's. Ist mein Erscheinen heute etwas so Auffälliges?“

„Ich denke – ah. Unbegreiflich.“

„Was ist unbegreiflich?“

Da nahm Müller das Wort, indem er sagte:

„Der Herr Kapitän sagte uns soeben, daß Sie während der vergangenen Nacht ganz unerwartet zu einer plötzlichen Abreise gezwungen worden seien.“

Da schüttelte Marion den Kopf und sagte im unbefangensten Ton:

„Da hat sich der Herr Kapitän sehr geirrt. Ich wüßte nicht, was mich jetzt zu einer Reise veranlassen könnte.“

Der Kapitän vermochte sich das Erscheinen Marions nicht zu erklären. Ihr Verhalten zeigte auch keineswegs etwas Feindseliges. Er beschloß also, einstweilen zu schweigen. Aber als er nach eingenommenem Frühstück für kurze Zeit am Fenster stand und Marion unter irgendeinem Vorwand sich ihm näherte, richtete er seine Augen stechenden Blicks auf ihr Gesicht und sagte:

„Was ist das für ein Rätsel? Man sagte mir, daß du nach dem Bahnhof gebracht worden seiest.“

„Von wem?“

„Danach habe ich nicht gefragt. Auch erfuhr ich, daß du dich während der Nacht nicht in deinem Zimmer befunden habest.“

„Wer sagte das?“

„Deine Zofe.“

„Sie hatte recht. Ich war allerdings nicht in meiner Wohnung.“

Der Kapitän öffnete die Augen womöglich noch weiter und fragte:

„Wo denn?“

„Interessiert dich das so sehr?“

„Natürlich. Man sagte mir, du seist verreist; du kommst trotzdem zum Frühstück; da muß ich allerdings sehr wißbegierig sein, wie das zusammenhängt.“

„Das möchte ich selbst gern wissen. Ich bin nicht auf den Gedanken gekommen, zu verreisen.“

„Aber wo befandest du dich?“

„In Sicherheit, Herr Kapitän!“

Diese Antwort war scheinbar ganz leichthin gegeben, aber es traf ihn dabei ein Blick, welcher ihm sagte, daß diese Worte eine tiefere Bedeutung hätten.

„In Sicherheit?“ fragte er. „Ich begreife nicht, was du mit diesen Worten sagen willst. Ich denke, daß ein jeder hier in Ortry sich in Sicherheit befindet.“

„Vielleicht sind andere nicht ganz derselben Meinung.“

Sie wendete sich von ihm ab und verließ den Speisesaal. Darauf hatte die Baronin gewartet. Sie trat sofort zu dem Alten heran und fragte:

„Können Sie mir das erklären?“

„Nein“, antwortete er.

Es war ihm anzusehen, daß er sich in außerordentlicher Verlegenheit befand.

„Sie haben aber doch mit ihr gesprochen. Sie haben sich natürlich erkundigen müssen.“