Sie erzählte, wie alles gekommen war. Er hörte zu und meinte dann:
„Das hatte sich sehr leicht gemacht. Jetzt wollen wir ihm Auskunft geben, daß ihm vor Freuden Wermut wie Zucker schmecken soll! Ich freue mich auf heute abend. Mach deine Sache gut in der Küche! Die Herren Franzosen pflegen gewaltige Leckermäuler zu sein.“
„Hm! Vielleicht bin ich heute abend gar nicht da, mein lieber Großpapa.“
„Wo denn?“
„Verreist.“
„Sapperlot! Wohin willst du denn?“
„Weit, sehr weit! Nach Frankreich hinein!“
„Bist du toll?“
„Nein. Madelon reist auch.“
„Nach Frankreich?“
„Ja, zu ihrem Pflegevater, der gestorben ist.“
„Und du gedenkst, sie zu begleiten? Daraus wird nichts, Kind, gar nichts. Madelon mag reisen. Der Mann hat sie erzogen; sie ist ihm die letzten Ehren schuldig. Aber was geht er dich denn an?“
„Oh, du denkst, daß ich wegen ihm reisen will? Das ist spaßig. Nein, nein. Ich habe einen anderen, einen sehr gewichtigen Grund. Nicht wahr, liebe Madelon?“
Die Gefragte warf ihr einen halb zweifelnden halb frohen Blick zu und antwortete:
„Aber mir hast du von deiner Absicht, zu reisen, ja noch kein einiges Wort gesagt.“
„Das war nicht nötig; ich wollte warten, bis wir hier sein würden. Ja, lieber Großpapa, es ist vielleicht ganz und gar nötig, daß ich reise. Denke dir, es hat sich einer mit dem Löwenzahn gefunden.“
„Mit dem Löwenzahn? Ich verstehe dich nicht!“
„Lies hier diesen Brief.“
Sie ließ sich von Madelon den Brief geben und reichte ihn dem Rittmeister hin. Dieser hatte keineswegs so schwache Augen, wie er Haller glauben gemacht hatte. Sein Gesicht war im Gegenteil noch ganz scharf. Er faltete den Brief auseinander und begann zu lesen.
Während der Lektüre nahm sein Gesicht den Ausdruck einer sich immer vergrößernden Spannung an. Als er fertig war, sagte er kein Wort, aber fuhr aus dem Stuhl empor und begann, mit großen, raschen Schritten das Zimmer zu messen. Das pflegte er stets zu tun, wenn irgend etwas seine Gedanken oder Gefühle mehr als gewöhnlich in Anspruch nahm. Man durfte da nicht auf ihn sprechen, man mußte ihn gehen lassen. Hatte er dann Klarheit gewonnen und einen Entschluß gefaßt, so begann er dann schon selbst, sich darüber zu äußern.
Darum schwiegen die beiden Damen jetzt und warteten, bis er selbst das Wort ergreifen werde. Da endlich blieb er vor ihnen stehen, schlug mit der Rechten auf den Brief, den er in der Linken hielt, und sagte:
„Ist das nicht wunderbar, liebe Emma, höchst wunderbar?“
„Gott tut allerdings noch Wunder, Großpapa.“
„Ja. Glaubst du, daß er es ist?“
„Die Buchstaben fehlen und die Jahreszahl.“
„Das ist es ja eben. Aber wenn diese auch vorhanden wären, so läge doch noch immer die Möglichkeit vor, daß die Zähne in fremde Hände gekommen sind.“
„Das sagte auch ich bereits.“
„Hm. Wir suchen die Jungens, und einer von ihnen ist ganz in unserer Nähe gewesen. Habe ich nicht immer behauptet, daß der Fritz dem General ähnlich sieht?“
„Stets.“
„Und was nun fast noch wunderbarer ist: Hast du dir diesen Maler genau angesehen?“
„Natürlich. Du meist wegen seiner Ähnlichkeit mit Fritz?“
„Ja. Die ist frappant. Sie gleichen einander wie ein Ei dem anderen. Aber das ist jedenfalls bloßer Zufall. Ein Naturspiel. Ich wüßte nicht, wie sonst dieser Franzose zu der Ähnlichkeit kommen sollte.“
„Sogar seine Stimme klingt wie diejenige unseres Fritz.“
„Hast du das auch bemerkt? Ich habe es sofort herausgehört. Also den rechten Zahn hat der Wachtmeister. So wäre er der Erstgeborene. Aber können wir dem General oder der Generalin etwas sagen?“
„Unmöglich.“
„Nein. Die alten Wunden klaffen auf, und wir wissen nicht, ob wir imstande sind, sie zu heilen. Man müßte den Zahn sehen und die Bilder, welche sich darin befinden!“
„Auch das würde noch nicht genügen. Es gilt, zweierlei festzustellen, nämlich erstens, ob der Zahn wirklich einer der beiden echten ist, und zweitens, ob Fritz der Knabe ist, dem er zu Recht gehört.“
„Richtig. Aber was steht denn da von der Seiltänzerin? Schade, jammerschade, daß sie verunglückt ist!“
„Sie könnte Auskunft geben.“
„Oder der Hanswurst, wenn es ihm nicht gelungen wäre, zu entkommen. Er muß unbedingt aufgesucht und gefunden werden. Es ist doch am besten, wir schreiben Richard!“
„Nein. Am besten ist's, es reist jemand hin.“
„Aber wer denn? Goldbergs dürfen nichts wissen; so bleibst nur du und ich. Soll ich diese Tour unternehmen?“
„Du nicht, aber ich!“
„Mädchen, du bist nicht bei Trost! So ein Vogel, der noch gar nicht flügge ist, will nach Frankreich flattern!“
„Madelon flattert doch auch!“
„Ja, den Beweis hast du sofort bei der Hand! Aber bedenke die Gefahr!“
„Wo sollte es eine Gefahr geben?“
„Da und dort und überall! Wie ist es mir ergangen!“
„Das war im Kriege!“
„Auch während des Waffenstillstandes!“
„Also doch während des Krieges!“
„Und dein armer Vater, mein guter Gebhard, der nach diesem verdammten Frankreich ging und nicht wiederkam!“
„Wir müssen immerhin sagen, daß das Unternehmen, welches er vorhatte, ein abenteuerliches und gefährliches war.“
„Und der brave Florian Rupprechtsberger! Auch den hat der Teufel geholt!“
„Aus demselben Grund. Das aber, was wir jetzt vorhaben, ist weder abenteuerlich noch gefährlich.“
„Das will mir nicht einleuchten.“
„Man hat ja fast gar nichts zu tun, als nach Thionville zu fahren und mit Fritz zu sprechen.“
„Und in der Mosel zu ersaufen, wie es Richard beinahe ergangen wäre.“
„Ich fahre nicht mit dem Schiff.“
„So entgleist der Zug, und du bist futsch.“
„Aber, Großpapa, bist du denn wirklich einer von den berühmten Ziethenhusaren gewesen?“
„Freilich! Und ich glaube, Mädel, in dir spukt auch das alte, verwegene Husarenblut!“
Sie nickte ihm lächelnd zu und antwortete:
„Ich bin die Tochter einer alten Soldatenfamilie.“
„Das ist wahr, ich will es gern glauben, daß du dich vor dieser Reise nicht fürchtest.“
„Ich habe ja auch Madelon bei mir.“
„Na, das ist die Richtige! Die kann viel zu deinem Schutz tun! So ein Mädchen schreit laut auf, wenn eine Mücke summt!“
„Und sodann, weißt du, woran ich gedacht habe?“
„Na, woran ihr Mädels denkt, das weiß man ganz genau. Ich hab's erfahren.“
„Nun, woran?“
„Ans Heiraten natürlich.“
„Richtig! Das ist's, was ich sagen wollte.“
„Sapperment! Ich hoffe doch nicht, daß du nach Frankreich reisen willst, um dir von dorther einen Mann zu holen?“
„Warum nicht?“
„Das geht nicht! Das leide ich nicht! Einen Franzosen dulde ich nicht in meiner Familie!“
„Hast du dir nicht auch eine Französin geholt? Und Vater auch und der Onkel General auch!“
„Ja, eine Frau! Das ist etwas anderes! Aber einen Mann! In Frankreich haben nur die Weiber Verstand, bei uns in Deutschland aber die Männer!“
„Danke für das Kompliment! Aber ich will dich beruhigen und dir sagen, daß es mich gar nicht nach einem Mann gelüstet; doch mußt du auch an Richard denken!“
„An den? Na, der ist ganz aus der Art geschlagen. Der hat noch kein Mädchen angeguckt! Ich glaube nicht, daß er jemals auf den Gedanken kommt, sich eine Frau zu nehmen.“
„Meinst du? Da kenne ich ihn besser.“
„Grünschnabel!“
„Oho!“ lachte sie. „Ich verbitte mir allen Ernstes solche Blücherische Ausdrücke!“
„Und abermals Grünschnabel! Blücher hat deutsch gesprochen und deutsch zugehauen! Geht mir mit euren jetzigen Feinheiten! Also, was den Richard betrifft, so willst du anderer Meinung sein als ich?“