„Der Herr Kapitän ist plötzlich erkrankt“, antwortete der Diener, an den er sich gewendet hatte.
„Was fehlt ihm?“
„Er hat einen Krampfanfall.“
„Heftig?“
„O nein. Aber er scheint nicht sprechen und sich auch kaum bewegen zu können.“
„O weh! Das klingt ja ganz und gar gefährlich.“
Da räusperte sich der Mann und sagte leise:
„Hm. Ich wollte, daß es gefährlich wäre!“
„Pst! Um Gottes willen!“
„Oh, Sie werden mich nicht verraten, Herr Doktor. Aber an dem Alten würden wir doch nur unseren Peiniger verlieren.“
Nach angemessener Zeit kehrte der Diener zurück. Doktor Bertrand kam mit ihm und begab sich sogleich zu dem Patienten. Er untersuchte den letzteren und erklärte den Anfall für zwar heftig, aber keineswegs gefährlich. Er blieb zum Abendessen da. Als er im Speisesaal erschien, wurde er mit Fragen bestürmt.
„Haben Sie keine Sorge“, antwortete er. „Es handelt sich um eine Krampfart, welche keineswegs gefährlich ist.“
„Aber er kann bereits nicht mehr sprechen“, sagte die Baronin, welche es für angezeigt hielt, eine Besorgnis zu zeigen, welche Sie keineswegs empfand.
„Er wird die Sprache wiederfinden.“
„Und die Bewegung hat er verloren.“
„Er wird lernen, sich wieder zu bewegen. Ich kenne diese Krankheit sehr genau und kann Sie vollständig beruhigen. Der Herr Kapitän wird zwei Tage und zwei Nächte lang unbeweglich liegen und dann wie aus einem tiefen Schlaf erwachen. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.“
Er warf dabei auf Müller einen Blick, der diesem sagte, daß diese Worte besonders an ihn gerichtet seien, um ihn zu benachrichtigen, daß er von jetzt an zwei Tage lang freie Hand habe, nach Belieben zu schalten und zu walten.
Daher begab sich der Erzieher zu der angegebenen Zeit in den Wald, wo Fritz seiner bereits wartete.
„Guten Abend“, sagte der letztere. „Er hat die Tropfen, und sie haben sehr gut gewirkt.“
„Woher weißt du das?“
„Der Arzt wurde geholt; das genügt, um zu wissen, woran man ist. Wie steht es, Herr Doktor? Wann beginnen wir unsere Entdeckungsreise?“
„Sogleich.“
„Ah, das ist gut. Haben Sie alles mit?“
„Natürlich. Wir steigen in dem Gartenhäuschen ein.“
Das geschah. Sie gelangten unter das Häuschen, da, wo rechts sich der Gang nach dem Schloß zog, und links eine verschlossene und verriegelte Tür zu sehen war.
Sie hatten die Laternen angebrannt, und Fritz blickte neugierig in den dunklen Gang hinein.
„Hier muß es nach dem Schloß gehen. Nicht?“ fragte er. „Schlagen wir diese Richtung ein?“
„Nein. Ich habe diesen Teil der Geheimnisse bereits studiert. Jetzt muß ich wissen, was sich hinter dieser Tür verbirgt.“
„Werden wir sie öffnen können?“
„Ich hoffe es. Wir haben ja die Hauptschlüssel.“
Er probierte, und wirklich, es ging. Sie sahen, nachdem sie geöffnet hatten, einen Gang vor sich, welcher ganz dieselbe Beschaffenheit mit demjenigen hatte, der nach dem Schloß führte; sie schlossen die Tür hinter sich wieder zu und schritten dann langsam vorwärts.
Nach einiger Zeit bemerkten sie zur Seite eine Tür und dann wieder eine.
„Was mag da drin stecken?“ fragte Fritz.
„Das werden wir später erfahren.“
„Warum nicht jetzt?“
„Ich will mich vorerst nicht bei Details aufhalten. Ich muß vielmehr vor allen Dingen mich über die Lage, Natur und Richtung der Gänge unterrichten. Komm weiter.“
Sie erblickten mehrere Türen, ohne aber eine derselben zu öffnen. Nach einiger Zeit erreichten sie einen großen viereckigen Raum, in welchem der Gang durch einen zweiten rechtwinklig durchkreuzt wurde.
„Das ist's, was ich suche“, sagte Müller. „Wie es scheint, hat mich meine Ahnung nicht getäuscht.“
„Wegen der Richtung dieser Gänge?“
„Ja. Geradeaus kommen wir jedenfalls nach dem Waldloch, welches wir bereits kennen, rechts nach der Ruine, in welcher du fast ergriffen worden wärst, und links nach dem alten Turm, wo der Geist der toten Baronin sein Unwesen treibt.“
„Wie gehen wir da?“
„Zunächst geradeaus.“
Sie taten das, konnten aber bereits nach kurzer Zeit stehenbleiben. Müller beleuchtete eine der hier befindlichen Türen und sagte:
„Die kommt mir bekannt vor. Hinter dieser Tür haben wir die Schlüssel gefunden oder vielmehr annektiert. Laß uns einmal sehen.“
Er schloß auf, und sie traten ein. Sie schritten zwischen den Kisten hindurch nach dem Hintergrund, wo Müller die dort befindliche Tür aufriegelte.
„Ja, ich irre mich nicht“, sagte er. „Hier liegen leere Säcke.“
„Sind sie leer? Wozu liegen sie dann hier?“
„Um Marion als Lager zu dienen.“
„Mademoiselle Marion? Sollte die hier liegen?“
„Ja. Der Kapitän wollte an ihr eine Gewalttat begehen, die ich aber verhindert habe. Ich werde dir noch davon erzählen. Wir wollen jetzt nach dem Kreuzgang zurückkehren.“
Als sie diesen erreichten, wendeten sie sich links. Auch dieser Gang war ganz genau wie der vorige – rechts und links Türen, welche sie aber jetzt noch nicht öffneten. Endlich standen sie vor einer Tür, welche ihnen gerade entgegenstand. Auch hier paßte einer der Schlüssel.
Als sie eintraten, sah Fritz sich um und sagte sogleich:
„Ja, Sie haben recht. Hier ist die Ruine.“
„Kennst du dich aus?“
„Es ist der Saal, in welchem ich beinahe erwischt worden wäre. Ich irre mich nicht.“
„So können wir zunächst wieder umkehren, um den vierten Gang zu untersuchen, welcher meines Erachtens nach dem alten Turm führt.“
Als sie diesen Gang erreichten, fanden sie vorerst nichts, was ihn von den anderen unterschieden hätte. Bald aber zweigte sich nach rechts ein zweiter Stollen ab.
„Gehen wir da hinein?“ fragte Fritz.
„Ja. Wenn mich meine Berechnung nicht täuscht, führt er nach der Richtung, in welcher der Steinbruch liegt. Wollen einmal sehen.“
Sie hatten eine ziemliche Strecke zurückzulegen, ohne daß sie eine Tür bemerkten; dann war der Gang plötzlich verschüttet.
„Ah, das ist schade!“ sagte Fritz. „Nun können wir nicht weiter.“
„Ich möchte doch behaupten, daß wir uns gar nicht weit entfernt vom Steinbruch befinden. Doch laß uns nun den Hauptgang wieder verfolgen.“
Sie kehrten zurück und schritten weiter in denselben hinein. Hier gab es wieder Türen rechts und links. Plötzlich blieb Fritz stehen, ergriff seinen Herrn am Arm und hielt ihn fest.
„Pst!“ warnte er.
Sofort verschwand die Laterne in Müllers Tasche, so daß es vollständig dunkel war.
„Was gibt es?“ fragte der letztere.
„Mir war es, als wenn jemand gesprochen hätte.“
„Wo?“
„Da vorn, vor uns.“
„Ich habe nichts gehört.“
„Ich kann mich getäuscht haben, aber horchen wir.“
Sie verhielten sich vollständig ruhig und bewegungslos. Wirklich, nach kurzer Zeit drangen Töne an ihr Ohr, welche nur von einer menschlichen Stimme hervorgebracht werden konnten, und die von einem taktmäßigen Klopfen begleitet wurden.
„Hören Sie jetzt?“ fragte Fritz.
„Ja; sogar ganz deutlich. Laß uns vorsichtig weiterschleichen.“
Je weiter sie kamen, desto vernehmlicher wurde die Stimme. Zuletzt erblickten sie einen schmalen Lichtstreifen, welcher aus einer nicht ganz zugemachten Tür zu kommen schien.
„Das ist kein Mann, sondern ein weibliches Wesen“, bemerkte Fritz.
„Du hast recht; ich höre es auch. Kannst du ahnen, wer es vielleicht ist?“
„Nein.“