„Wir befinden uns jedenfalls in der Nähe des alten Turms.“
„Ganz gewiß.“
„Nun, welches weibliche Wesen gibt es dort?“
„Sapperment! Liama?“
„Ich vermute, daß sie es ist.“
„Wenn das wäre! So hätten wir endlich den Geist greifbar in den Händen.“
„Laß uns weitergehen. Aber mach ja kein Geräusch.“
Sie erreichten die Türspalte. Müller blickte hinein. Er stand am Eingang eines ziemlich großen Gemachs, in welchem sich ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl befanden. Eine sehr einfache Öllampe hing an einem Draht von der Decke herab und beleuchtete eine weiß gekleidete weibliche Gestalt, welche am Boden saß und damit beschäftigt war, Maiskörner auf einem Stein zu zerklopfen. Dieses Klopfen geschah im Takt und dazu erklangen aus dem Mund dieser Gestalt die Worte:
„Im Namen Gottes, des Allbarmherzigen! – Der Klopfende! Wer ist der Klopfende? Wer lehrt dich begreifen, was der Klopfende ist? An jenem Tag werden die Menschen sein wie umhergestreute Motten und die Berge wie verschiedenfarbige gekämmte Wolle. Der nun, dessen Waagschale mit guten Werken schwer beladen ist, der wird ein Leben lang in Vergnügen führen, und der, dessen Waagschale zu leicht befunden wird, dessen Wohnung wird der Abgrund der Hölle sein. Wer aber lehrt dich begreifen, was der Abgrund der Hölle ist? Es ist das glühendste Feuer!“
Diese Worte waren die einhundertunderste Sure des Korans, welche die mohammedanischen Frauen beim Klopfen der Fruchtkörper abzusingen pflegen.
Auch Fritz betrachtete die Arbeitende.
„Kennst du sie?“ fragte Müller.
„Es ist dieselbe, welche uns erschien, als wir das Grab geöffnet hatten.“
„Also Liama. Auch ich erkenne sie wieder.“
„Welch eigentümliche Kleidung.“
„Es ist diejenige der Beduinenfrauen.“
„Dieses Weib muß einst schön, sehr schön gewesen sein.“
„Ja; es besitzt die Züge Marions, seiner Tochter.“
„Was tun wir, treten wir ein?“
„Wir erschrecken sie.“
„Hm. Aber unbenutzt können wir diese Entdeckung doch nicht lassen.“
„Keineswegs. Gehen wir eine Strecke zurück. Dann kommen wir mit lauten Schritten näher.“
Sie taten das; sobald ihre Schritte hörbar wurden, öffnete sich die Tür, und Liama erschien unter derselben.
„Kommst du heute schon wieder?“ fragte sie. „Laß mich doch ruhig weinen und in Frieden beten.“
„Sallam aaleïkum – Friede sei mit dir!“ antwortete Müller.
„Aaleïkum sallam – mit dir sei Friede“, entgegnete sie. „Aber wessen Stimme ist das? Ich habe sie noch nie gehört.“
„Es ist die Stimme deines Erretters, welcher dich der Freiheit und dem Licht der Sonne wiedergeben will.“
„Tritt näher!“
Sie trat in das erleuchtete Gemach zurück, und Müller folgte ihr. Fritz blieb noch draußen im Gang stehen. Sie betrachtete ihn aufmerksam und sagte dann:
„Deine Augen sind die Augen der Güte, und in deinem Gesicht steht geschrieben das Wort von der Wahrheit. Dein Herz kennt nicht die Täuschung, und dein Mund redet keine Lüge. Was bringst du mir?“
„Die Freiheit.“
„Behalte sie für dich.“
„Das Glück.“
„Liama kann nie wieder glücklich sein.“
„Die Seligkeit.“
„Die Seligkeit wird Liama nicht hier auf Erden finden, sondern erst nach dem Tod. Bist du von ihm gesandt?“
„Wen meinst du?“
„Den alten Weißbart, dem alle gehorchen müssen.“
„Nein, er ist es nicht, der mich sendet.“
„Weiß er, daß du dich hier befindest?“
„Nein.“
„So fliehe eilends von hier, sonst bist du verloren. Er ist voller Macht und Grausamkeit.“
„Ich fürchte ihn nicht.“
„Und ich ermahne dich, ihn zu fürchten, sonst wird er dich verschlingen, wie der Panther das unschuldige Lamm.“
Sie winkte ihm, fortzugehen. Er aber trat näher und sagte:
„Du bist Liama, die Tochter des Beni Hassan?“
„Ich bin nicht Liama, sondern ihr Geist.“
„Dein Vater war Menalek, der Scheik eures Stammes?“
„Er war es.“
„Hast du gekannt Saadi, den Liebling Allahs und seines Propheten?“
Da richtete sie sich auf und antwortete:
„Ob ich ihn gekannt habe! Er war meine Seligkeit, und ich ging in die Hölle, um ihn zu retten.“
„Er ist tot!“
„Nein, er lebt. Saadi kann nicht sterben.“
„Und kennst du Marion, die Enkelin des Beni Hassan?“
„Marion? Ja, ich kenne sie!“
Sie faltete die Hände, blickte flehend zu Müller herüber und fragte:
„Hast du sie gesehen?“
„Ja, ich sehe sie täglich.“
„Spricht sie auch mit dir?“
„Wir sprechen oft, sehr oft miteinander.“
„Kennt sie noch den Namen ihrer Mutter?“
„Sie kennt ihn und spricht ihn stündlich aus.“
„Sie sollte sterben. Um sie zu retten, ist Liama ein Geist geworden. Liama lebt nicht mehr; sie ist tot. Aber ihre Tochter lebt und wird glücklich sein.“
„Deine Tochter weiß, daß du nicht gestorben bist!“
„Um Allahs Willen, sie darf es nicht erfahren!“
„Sie weiß es bereits.“
„So soll sie es keinem Menschen sagen.“
„Sie hat große Sehnsucht, dich zu sehen und mit dir zu sprechen.“
„Ich darf nicht mit ihr sprechen. Ich habe geschworen beim höchsten Himmel und bei der tiefsten Hölle, meine Tochter nicht zu sprechen, nie wieder im ganzen Leben.“
„Wem hast du es geschworen?“
„Malek Omar.“
„Dem Mann mit dem grauen Bart?“
„Ja. Er hat das Leben meiner Tochter in seiner Hand. Sie soll nicht sterben, sondern leben bleiben.“
„Kommen auch andere Männer zu dir?“
„Es kommen ihrer viele, und ich beschütze sie.“
„Kennst du auch Abu Hassan, den Zauberer?“
„Ich kenne ihn. Er ist alt und grau geworden; ich habe ihn gesehen an meinem Grab.“
Liama war jedenfalls ihrer Geisteskräfte nicht mehr vollständig Herr. Was Müller jetzt von ihr erfuhr, das gab ihm eine furchtbare Waffe gegen Richemonte in die Hand.
„Wie bist du in diese Höhle gekommen?“ fragte er.
„Ich habe sie mir selbst gewählt.“
„Man hat dich nicht gezwungen?“
„Nein. Ich bin tot und wohne unter meinem Grab.“
„Willst du nicht leben, leben und glücklich sein?“
„Ich bin tot. Ich bin glücklich, wenn mein Kind lebt.“
„Darf ich mir deine Wohnung betrachten?“
Er bemerkte nämlich eine Tür, welche weiterführte. Seine Frage brachte einen ganz unerwarteten Eindruck hervor. Sie sprang an die Tür, stellte sich vor dieselbe und rief:
„Zurück! Zurück! Wer diesen Eingang erzwingen will, der muß eines fürchterlichen Todes sterben und ich mit ihm!“
Müller ahnte, daß diese Tür die Verbindung mit dem Grab und dem Turm herstellte. Er hätte gar zu gern das Geheimnis kennengelernt, aber er hütete sich, dem armen Weib zu schaden. Darum sagte er in beruhigendem Ton:
„Ich will ihn nicht erzwingen. Ich fragte dich nur.“
„Frage auch nicht! Ich darf dir nicht antworten, denn ich habe es geschworen. Verlaß mich! Ich will allein sein.“
„Darf ich nicht wiederkommen?“
„Nein, jetzt nicht.“
„Auch nicht später?“
„Vielleicht. Sage mir dann, was meine Tochter mit dir vom Geist ihrer Mutter spricht.“
„Ich werde dir alles mitteilen.“
„Aber laß es dem mit dem grauen Bart nicht wissen!“
„Nein. Wirst du ihm sagen, daß ich hier gewesen bin?“
„Nein, denn sonst würde er dich erwürgen. Nun aber gehe! Allah sei mit dir!“
Sie schob ihn zur Tür hinaus und verriegelte sie dann von innen. Fritz war von ihr gar nicht gesehen worden. Die beiden Männer tappten sich im Dunkeln fort, und Müller zog erst dann die Laterne hervor, als sie den Kreuzgang erreicht hatten. Auch hier erst begann er zu sprechen.