„Hast du alles gehört?“ fragte er.
„Alles!“
„Welch eine Entdeckung! Welche Waffe gegen den Kapitän gibt sie mir in die Hand!“
„Er ist verloren, sobald Sie wollen.“
„Ja, aber ich darf noch nicht wollen.“
„Warum nicht? Solches Ungeziefer muß man sofort vertilgen. Es leben zu lassen ist Sünde.“
„Und dennoch darf ich nicht – meines Vaters wegen.“
„Ihres Vaters wegen?“ fragte Fritz ganz erstaunt.
„Ja.“
„Der ist wohl jedenfalls tot.“
„Nein; er lebt.“
„Himmel! Wo sollte er sein?“
„Hier in diesen Gewölben.“
Der gute Fritz machte ein Gesicht, als ob er überzeugt sei, daß er jetzt seinen Verstand verlieren werde.
„Hier in diesen Gewölben? Kreuzmillionendonnerwetter! So muß er heraus, und zwar sofort! Wo steckt er denn? Die Schlüssel haben wir!“
„Noch kann ich das nicht sagen. Daß er hier ist, vermute ich, gewiß ist es noch nicht. Und befindet er sich hier, so sind wir ihm gerade in diesem Augenblick jedenfalls sehr nahe. Laß uns hier an diesem Ort einmal suchen, ob wir ein verborgenes Gefängnis zu entdecken vermögen.“
Er erinnerte sich genau der Worte, welche der kranke Baron im Speisesaal gesprochen hatte. Hier dieser Kreuzgang war der Mittelpunkt aller Gewölbe; hier mußte sich der Gesuchte finden, wenn er überhaupt sich hier befand.
Die beiden forschten und boten allen ihren Scharfsinn auf, allein vergebens. Es war nichts zu entdecken.
„Wir haben ja noch keine einzige der vielen Türen geöffnet“, sagte Fritz. „Vielleicht ist er da irgendwo versteckt.“
„Das glaube ich nicht. Aber wissen müssen wir freilich, was sich hinter diesen Türen befindet. So wollen wir also einmal nachforschen.“
Sie gingen von Gang zu Gang, von Tür zu Tür. Diese letzteren waren alle mittels der Schlüssel zu öffnen. Es gab da Raum an Raum, und alle die Räume waren mit Waffen und Munition angefüllt. Das machte auf die beiden Eindringlinge einen beinahe überwältigenden Eindruck.
Wie viele Menschenleben sollten durch diese Vorräte zugrunde gehen. Nein, das durfte nicht geschehen!
„Ehe ich zugebe, daß die Franzosen sich dieser Waffen bedienen können, würde ich den ganzen Kram in die Luft sprengen“, sagte Fritz.
„Das ist auch meine Ansicht. So viel an mir liegt, sollen diese Gewehre und Munition keinem einzigen Deutschen Schaden machen. Aber weißt du, daß der Tag gleich anbrechen wird? Es ist Zeit, Schicht zu machen. Wir haben noch einen ganzen Tag, bevor der Alte wieder gesund sein wird.“
„Er sollte liegenbleiben, liegenbleiben und tausendfache Schmerzen erdulden! Warum zeigen Sie ihn nicht an?“
„Weil ich meinen Vater suche, welcher vielleicht elend verhungern und verschmachten müßte, wenn der Kapitän gefangen würde.“
„Ah so! Das begreife ich. Aber Liama? Was wird mit dieser?“
„Hm! Ich werde sie einstweilen lassen müssen, wo sie ist.“
„Und auch niemanden etwas von ihr sagen?“
„Keinem Menschen.“
„Aber doch wenigstens ihrer Tochter?“
„Auch dieser nicht. Ich würde voraussichtlich ihr und der Mutter schaden. Ehe ich handle, muß ich sämtliche Geheimnisse dieser unterirdischen Gewölbe kennen. Dann wird der ganze Bau des Alten in einem einzigen Augenblick zusammenbrechen. Wehe ihm, wenn ich einmal mit ihm abzurechnen beginne!“ –
Es vergingen einige Tage. Die Voraussage des Arztes zeigte sich als wohl begründet. Nach zwei Tagen erwachte der Kapitän, fühlte sich doch aber so angegriffen, daß er sich nicht sehen ließ. Das äußere Leben ging seinen ruhigen Gang, scheinbar ohne eine Änderung hervorzubringen. Aber die tiefer liegenden Pulse klopften heimlich und da gab es denn stille Entwicklungen, von denen niemand etwas zu bemerken schien.
Marion verkehrte täglich mit Harriet de Lissa, und – der Amerikaner suchte ebensogern das Haus des Arztes auf. Er wurde mit unwiderstehlicher Gewalt von der vermeintlichen Engländerin angezogen, und es wollte ihm vorkommen, als ob sie seine Nähe nicht ungern empfinde.
So war er auch heute gekommen, sie zu sehen. Er hörte, daß sie sich im Garten befinde, und begab sich dorthin. Er fand sie in einer offenen Weinlaube sitzen, welche ganz nahe an dem Zaun stand, und erhielt die Erlaubnis, neben ihr Platz zu nehmen.
Er fühlte sich so glücklich in der Nähe des schönen Wesens, er dachte gar nicht daran, von seiner Liebe zu sprechen, denn es war ihm ganz so, als ob sie das auch ohne Worte bereits erfahren habe.
Da kam ein kurzes, sehr dickes Männchen hinter den Gartenzäunen langsam daher. Er trug einen riesigen Kalabreser auf dem Kopf und in den Händen eine Mappe und einen Feldstuhl.
Er schritt auf einem Rasenweg, und so mochte es kommen, daß man ihn nicht hörte. Es war der gute Herr Hieronymus Aurelius Schneffke, welcher soeben von Metz gekommen war.
Indem er so, halb in Gedanken versunken, dahinschritt, zuckte er plötzlich zusammen und blieb stehen. Er hatte ein halblautes, wohl tönendes Lachen gehört.
„Donnerwetter!“ flüsterte er. „Dieses Lachen kenne ich.“
Er horchte. Ja, jetzt hörte er auch eine weibliche Stimme sprechen.
„Die Gouvernante ist's, die Gouvernante! Das ist so fest und gewiß wie Pudding. Aber wo ist sie?“
Er trat hart an den Gartenzaun und blickte durch das Staket.
„Bei Gott! Dort sitzt sie in der Laube, so frisch und so schön wie Blüte und Sonnenschein. Und bei ihr sitzt – Mohrenelement! Wer ist das?“
Er betrachtete sich den Amerikaner genau und sagte dann:
„Ja, es stimmt; es stimmt ganz genau! So ein charakteristisches Gesicht kann es nicht zweimal geben. Das ist das Original des Porträts in Schloß Malineau, nur älter als das Bild. Das ist der Herr von Bas-Montagne wie er leibt und lebt. Ich werde –“
Er wollte sich am Zaun ein wenig emporziehen, um besser sehen zu können; aber er war zu schwer. Es krachte – die beiden Latten, welche er mit den Händen gefaßt hatte, brachen ab, und der gute Hieronymus stürzte zur Erde nieder.
Der Amerikaner hatte das Prasseln gehört. Er eilte herbei, um den Übeltäter womöglich zu erwischen. Er kam gerade zur rechten Zeit, um zu bemerken, daß Schneffke sich wieder vom Boden erhob.
„Herr, was suchen Sie hier?“ fuhr er ihn an.
„Zaunlattenspitzen“, antwortete Schneffke.
„Und die brechen Sie sich ab?“
„Ja.“
„Zu welchem Zweck denn?“
„Um auf die Erde zu fallen. Das sehen Sie ja.“
„Mann, Sie scheinen mir so eine Art von Strolch zu sein.“
„Freilich! Und zwar von der allerschlechtesten Sorte.“
„Donnerwetter! Wollen Sie sich über mich lustig machen?“
„Nicht übermäßig viel, denn Sie sehen mir wirklich gar nicht sehr lustig aus. Wie heißen Sie denn eigentlich?“
„Ah, das ist stark! Dieser Mensch kommt her, um Zaunlatten abzureißen, und fragt mich nach meinem Namen! Wie ist denn der Ihrige, he?“
„Der meinige ist einigermaßen selten. Ich bin der Tiermaler Hieronymus Aurelius Schneffke aus Berlin.“
„Schön! Was haben Sie als Maler denn hier am Zaun zu schaffen?“
„Das habe ich Ihnen ja bereits gesagt. Aber nun bitte ich, auch Ihren Namen erfahren zu dürfen.“
„Das finde ich nicht für nötig. Ich gebe meine Karte nur ganz anständigen Menschen.“
„Und ich bin kein solcher?“
„Jedenfalls nicht! Sie haben mehr das Aussehen eines Bummlers als eines Malers und daher ziehe ich es vor, meinen Namen als mein ausschließliches Eigentum zu betrachten.“
„Daran tun Sie sehr recht, da Ihr Name nicht viel wert zu sein scheint. Wer einen guten Namen hat, braucht ihn nicht zu verschweigen.“