Das war eine sehr kräftige Zurechtweisung. Sie traf den Amerikaner wie ein Dolchstoß.
„Herr, das wagen Sie mir zu sagen!“ rief er. „Soll ich etwa –“
Er hielt inne; ein warmes, weiches Händchen legte sich auf seine Schulter. Die Engländerin war herbeigekommen.
„Wen haben Sie da, Monsieur?“ fragte sie.
„Oh, einen Menschen, der es gar nicht verdient, daß man, nun, daß man –“
Und abermals konnte er nicht ausreden, denn sie unterbrach ihn plötzlich:
„Wen sehe ich da! Das ist ja unser guter Herr Hieronymus Schneffke aus Berlin!“
Der Maler zog mit möglichster Grandezza den Hut, machte eine ehrerbietige Verbeugung und sagte im höflichsten Ton zu der vor ihm stehenden Engländerin:
„Ja, ich bin es noch, meine Gnädige, freue mich ungemein, Sie zu sehen.“
Er betonte dabei das Wörtchen ‚noch‘ so sehr, daß es auffallen mußte.
„Noch?“ fragte sie. „Wie meinen Sie das, mein hochgeehrter Herr Schneffke?“
„Es gibt Leute, welche das heute nicht mehr sind, was sie gestern waren.“
Sie lächelte und fragte:
„Ja, die Verhältnisse verändern sich oft plötzlich.“
„So daß aus armen Gouvernanten recht reiche und vornehme Damen werden.“
„Warum nicht! Aber, Herr Schneffke, lassen Sie sich gratulieren, daß Sie jenen Unglückszug versäumten.“
„Ich danke! Bei dem fortwährenden Pech, welches mir angeboren zu sein scheint, befände ich mich heute jedenfalls unter den ewig Seligen.“
„Haben Sie Ihr Ziel glücklich erreicht?“
„Ja, danke. Ich habe dort sogar ein Glück gefunden, welches ich kurz vorher anderwärts vergebens suchte.“
Sie ahnte sofort, was er meinte. Darum fragte sie in freudigem Ton:
„Verstehe ich Sie recht, so darf ich wohl von ganzem Herzen nochmals gratulieren?“
„Hm! Was meinen Sie, meine Gnädige?“
„Sie sind – verlobt.“
„Donnerwetter! Ja, Sie haben es erraten.“
„Ah, schön! Wie heißt sie?“
„Marie.“
„Ein hübscher, poetischer und auch frommer Name!“
„Ja, hübsch ist sie, poetisch ebenso und fromm auch. Sie hat so ziemlich meine elegante und auffallende Statur. Wir passen ausgezeichnet zueinander.“
Da stieß der Amerikaner, der sich nicht zu halten vermochte, ein lautes Lachen aus.
„Und das nennen Sie hübsch?“
„Ja; warum nicht?“ fragte Schneffke.
„Nun, betrachten Sie sich doch einmal genauer!“
Die Dame glaubte, daß sich der kleine Maler in Wirklichkeit beleidigt fühlen werde, darum sagte sie in bittendem Tone:
„Monsieur Deep-hill!“
Da horchte Schneffke auf.
„Was?“ fragte er. „Deep-hill heißt dieser Herr?“
„Ja.“
„Er hat mir seinen Namen verschwiegen. Es wäre jedenfalls klüger gewesen, ihn mir zu nennen, das werde ich ihm doch noch beweisen. Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein!“
Er ging, ohne sich umzusehen. Aber als er dann um die Ecke gebogen war, blieb er einen Augenblick stehen und murmelte:
„Wunderbar! Höchst wunderbar! Diese Ähnlichkeit! Sollte er es wirklich sein! Das wäre ein Zufall oder eine Gottesschickung, wie es besser keine geben könnte! Deep-hill heißt auf französisch Bas-Montagne und auf deutsch Untersberg. Hier werde ich einmal den Herrgott spielen und diesen Leuten zeigen, was Herr Hieronymus Aurelius Schneffke eigentlich für ein Kerl ist.“
Nachdem Herr Hieronymus Aurelius Schneffke sein Renkontre mit Emma von Königsau und dem Amerikaner gehabt hatte, begab er sich in die Stadt, um in einem der dortigen Gasthöfe Logis zu nehmen. Er traf zufälligerweise gerade denjenigen, welchen Fritz Schneeberg zu besuchen pflegte, weil das Lokal seiner Wohnung gegenüber lag. Es war derselbe Gasthof, in welchem, als damals die Seiltänzerin verunglückte, die Künstler gewohnt hatten. Von dort aus war auch der Bajazzo mit der Kasse entflohen.
Als Schneffke eintrat, befand sich ein einziger Gast in dem Zimmer – Fritz. Er grüßte diesen und ließ sich ein Glas Wein geben. Nachdem er dasselbe erhalten hatte, entfernte sich die Kellnerin, und nun befanden sich die beiden also allein. Der dicke Maler war ein abgesagter Feind der Langeweile, und daher machte er dem bisherigen Stillschweigen ein Ende, indem er die Unterhaltung begann:
„Haben wir uns nicht bereits gesehen?“
Fritz hatte ihn längst forschend betrachtet. Er nickte mit dem Kopf und antwortete:
„Bereits mehrere Male, denke ich.“
„Mir scheint es auch so, aber ich weiß den Ort nicht mehr.“
„Zunächst wohl hier in Thionville?“
„Ja.“
„Wo denn da?“
„Auf dem Bahnhof.“
„Ah! Kann mich nicht entsinnen!“
„Aber ich desto besser. Ich stand im Bahnwagen und Sie versäumten den Zug. Nicht?“
„Ja, das ist wahr. Ich habe das angeborene Pech, die Züge zu versäumen. Es ist das nicht zu ändern.“
„Man muß sich in solches Unglück ergeben!“ lachte Fritz. „Und dann habe ich Sie auch in Etain wieder gesehen.“
„Sapperment! Wann denn?“
„Es war des Abends. Sie hatten sich mit einem roten Tischtuch umwickelt. Daß Sie dabei nicht barfuß waren, will ich nicht beschwören.“
„So, so! Hm! Ja, ich kann barfuß gewesen sein. Ich schwitzte an den Füßen. Was sind Sie für ein Landsmann?“
„Ich stamme von drüben aus der Schweiz.“
„Ihr Metier?“
„Pflanzensammler.“
„Also Botanikus? Das ist kein übles Gewerbe. Man hat es da mit Pflanzen und Blumen zu tun, und das ist viel besser als mit Tieren oder gar Menschen.“
„Sie sind Menschenfeind?“
„Ja. Die ganze Menschheit ist nichts als ein riesiger Pudding, der sauer geworden und verdorben ist, und in welchem allerlei Gewürm und Geschmeiß herumkrabbelt.“
„Danke.“
„Warum?“
„Weil ich nach Ihrer Anschauung dann auch zu dem Gewürm und Geschmeiß gehöre.“
„Natürlich.“
„Sie wohl nicht?“
„Ich auch. Das versteht sich doch von selbst.“
„Dann gehören Sie aber wohl zu der dicksten Sorte von Würmern, wie es scheint.“
„Gewiß. Oder finden Sie mich vielleicht einem Bandwurm ähnlich?“
„Ganz und gar nicht. Aber Sie haben mich nach meinen Verhältnissen gefragt. Darf ich auch wissen, was Sie sind?“
„Warum nicht? Ich bin Musikus.“
„Hm! Was spielen Sie für ein Instrument?“
„Die Maultrommel oder das Brummeisen.“
„Das ist jedenfalls das schwierigste und geistreichste Instrument.“
„Das ist gar nicht zu bezweifeln.“
„Und wo sind Sie her?“
„Ich bin ein geborener Ungar.“
„Ein Ungar? Hm! Sie haben aber in Deutschland gelebt?“
„Nein. Keinen Augenblick.“
„Das sollte mich wundern.“
„Warum?“
„Ich glaube, Sie in Deutschland gesehen zu haben.“
„Sie irren sich. Ich kann dieses Deutschland mitsamt seinen Bewohnern nicht leiden.“
„Möglich! Aber einen kenne ich doch, den Sie leiden können.“
„Wer könnte das sein?“
„Ein gewisser Martin Tannert. Er ist Telegraphist.“
„Alle Wetter! Kennen Sie den?“
„Ja. Sie kennen ihn auch.“
„Wer sagt das?“
„Er selbst. Übrigens habe ich Sie oft gesehen. Ich bin Ihnen in Berlin wiederholt begegnet. Sind Sie nicht der dicke Maler, der einmal beinahe in der Spree ertrunken ist, weil er gewettet hatte, den Schornstein eines Dampfschiffes emporklettern zu wollen?“
„Pfui Teufel! Das Ding wissen Sie?“
„Ganz Berlin sprach doch damals davon.“
„Na, meinetwegen! Übrigens habe ich damals diese verteufelte Wette gewonnen.“