„An die Kasse. Ich habe meinen Schirm dort stehen lassen.“
„Dazu ist keine Zeit. Es hat zum dritten Mal geläutet.“
„Aber ich muß ihn haben.“
„So versäumen Sie den Zug!“
„Heiliges Pech. Das ist der reine Pudding. Und da hängt weiß Gott mein Rockschoß.“
„Also hinein oder nicht? Hören Sie? Die Maschine gibt bereits das Zeichen.“
„Na, denn in Gottes Namen wieder hinein.“
„Aber schnell, schnell.“
So schnell allerdings, wie es wünschenswert war, ging das bei dem dicken Maler nicht. Er drückte und quetschte sich vorwärts, und der Schaffner schob aus Leibeskräften. Der Zug kam bereits ins Rollen. Da endlich stand Hieronymus Aurelius wieder im Coupé, und die Türe ward hinter ihm zugeworfen.
Emma hatte, um diese amüsante Szene beobachten zu können, den Schleier aufgeschlagen. Der Maler erkannte sie jetzt. Über sein Gesicht zog ein breites, wonniges Lächeln:
„Habe die Ehre, Fräulein König! Freut mich ungemein. Ihr ergebenster Diener – Himmeldonnerwetter.“
Er hatte ihr eine tiefe Verbeugung machen wollen, wurde jedoch in höchst fataler Weise daran verhindert. Es hielt ihn abermals jemand an der hintern Front seines Körpers. Er versuchte, sich umzudrehen. Es gelang ihm nur sehr schwer, und da sah er denn zu seinem Entsetzen, daß der Schaffner ihm den zweiten Schoß seines neuen Rockes in der Eile zwischen die Tür geklemmt hatte.
„Na, nun hört mir aber alles auf!“ sagte er. „Die Reise fängt sich allerliebst an. Wo fahren die Damen hin?“
Die Gefragten mußten sich die größte Mühe geben, ein lautes Lachen zu unterdrücken. Emma antwortete, um ihm gleich von vornherein zu zeigen, daß die etwaige Hoffnung, bis zu Ende seiner jedenfalls kurzen Fahrt in ihrer Nähe zu verbleiben, eine vergebliche sei:
„Nach Frankreich, mein Herr.“
„Das ist prächtig. Ich auch, ich auch. Da bleiben wir natürlich zusammen.“
Zunächst blieb er nämlich auch stehen, um sich auf der nächsten Station aus seiner Gefangenschaft befreien zu lassen.
ZWEITES KAPITEL
Die Botschaft des Zauberers
Es war ein wunderschöner Morgen über der Gegend von Ortry aufgegangen. Die Sonne hatte den Tau von den Blättern und Halmen verschwinden lassen, nur hier und da glänzte noch ein silberner Tropfen aus dem tiefen Kelch einer Blume hervor.
Um diese Zeit pflegte Marion de Sainte-Marie dem Unterricht beizuwohnen, welchen Doktor Müller ihrem Bruder Alexander gab. War es die Schwesternliebe oder das Interesse an den Lehrgegenständen, was sie zu diesem Opfer veranlaßte? Sie wußte es sich vielleicht selbst nicht zu sagen.
Nanon aber benutzte diese Zeit meist zu einsamen Spaziergängen im Wald. Da war es freier, besser und schöner als im Zimmer bei den Büchern – da draußen gab es allerlei Kräuter und Gräser, und zuweilen kam einer, um dieselben abzupflücken und in seinen großen Sack zu stecken.
Ein Plätzchen gab es, wo sie gar zu gern verweilte. Es war der Ort, an welchem sie zum ersten Mal mit Fritz ausgeruht hatte. Und wunderbar. Sooft Fritz in den Wald kam, er streckte sich gewiß nicht eher in das Moos oder in die Heide nieder, als bis auch er dieses Fleckchen erreicht hatte.
So strich sie leise und langsam zwischen den Bäumen dahin und trällerte vor sich hin:
Sie blieb stehen und lauschte. Kein Echo! Und sie war doch eine so große Freundin des Echos; sie hörte es so gern. Sie setzte also ihren Weg fort und sang weiter:
Sie hielt abermals inne, um zu lauschen. Über ihr allerliebstes Gesichtchen glitt ein glückliches Lächeln, denn jetzt, ja jetzt ließ sich ein Echo hören. Aber kam das von einem Berg oder von einer Felswand zurück? Wohl nicht, denn die Töne lagen um eine volle Oktave tiefer, und die Worte waren auch ganz andere. Gibt es denn auch Echos, welche nicht von Felswänden zurückgeworfen werden, und die ihre eigenen Töne und Worte haben? Jedenfalls, denn das Echo, welches sich jetzt hören ließ, sang:
Eine volle, kräftige Baritonstimme sang diese Verse. Nanon lauschte, und erst als das letzte Wort verklungen war, setzte sie sich wieder in Bewegung, aber schneller als vorher. Sie kam dem erwähnten Plätzchen immer näher, und als sie es erreichte, da – da lagen zwei im Moos, nämlich der volle Kräutersack und Fritz, der jetzige Besitzer dieses medizinisch und offiziell höchst wichtigen Gegenstandes.
Er hatte natürlich nicht die mindeste Ahnung, daß außer ihm noch irgendwer im Wald sein könne; ebensowenig hatte er jemand singen gehört. Er lag eben da und blickte zum Himmel auf wie einer, der sich auf der Erde sehr wohl befindet und dies jenen, die da oben wohnen, von ganzem Herzen auch wünscht.
„Guten Morgen, Herr Schneeberg!“ erklang es hinter ihm.
Wäre es möglich, daß er sich getäuscht hätte? Wunderbar! Er sprang auf und tat, also ob er im höchsten Grad überrascht worden sei.
„Ah, Sie sind es!“ meinte er dann beruhigt. „Guten Morgen, Mademoiselle Nanon. Ich dachte, ich wäre ganz allein.“
„Darum haben Sie auch so schön gesungen.“
„Schön? Wohl kaum leidlich, denn ich habe niemals Gesangunterricht gehabt.“
„Aber Ihre Stimme ist hübsch.“
„Oh, wie eben die Stimme eines Kräutermannes sein kann.“
„Sie sind sehr bescheiden. Und was Sie da sangen, das war mein Lieblingslied.“
„Wirklich? Das hätte ich wissen sollen.“
Und doch hatte er es gewußt, denn sie hatte es ihm bereits einige Male gesagt, ganz mit denselben Worten wie jetzt.
„Ich habe sogar, ehe ich Sie hörte, auch zwei Strophen desselben Liedes gesungen.“
„Drum! Drum hörte ich so etwas aus der Ferne, gerade wie wenn es vom Himmel käme. Es war so schön.“
„Gehen Sie! Sie schmeicheln.“
Er legte die Hand auf das Herz und beteuerte eifrig:
„Gewiß nicht! Ich sage die reine Wahrheit. Wenn Sie singen, so klingt es ganz anders als bei anderen Leuten. Es muß bei Ihnen da drin ganz anders beschaffen sein. Viel zierlicher und akkurater.“
Dabei deutete er auf seine Brust. Sie war ihm jetzt ganz nahe gekommen und reichte ihm ihr kleines weißes Händchen.